Ballett

Wenn die Wiener Tänzer nach den Sternen greifen

„Fort mit dir nach Paris", herrschte Leopold Mozart einst seinen Sohn an. Heutzutage kann dieses Motto für Balletttänzer gelten.

Wiens Staatsballett greift nach den Sternen. Man bricht auf ins Reich der ,,Étoiles", reist nach Paris – nicht etwa um den dortigen Tänzern zuzuschauen, sondern um 18 Vorstellungen im Théâtre du Châtelet zu geben. Diese Meldung, vor 20 Jahren formuliert, hätten Kenner als schlechten Faschingsscherz bezeichnet.

Heute scheint es möglich, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. Die Qualität der Wiener Compagnie hat seit Amtsantritt von Direktor Dominique Meyer drastisch gewonnen. Die Idee, den Pariser Star Manuel Legris zum Ballettchef zu machen, entpuppte sich als äußerst fruchtbringend.

Entsprechend hochmögende Erinnerungen beschwört man seit Beginn dieser Ära jeweils zum Ausklang der Spielzeit. Eine Galavorstellung des Staatsballetts erinnert alljährlich an Rudolf Nurejew – das Idol der Wiener Tanzfreunde über Jahrzehnte. Diesem ebenso kraftvollen wie ausdrucksstarken Russen gelang es seit seinem waghalsigen Sprung in die Freiheit – auf dem Pariser Flughafen – selbst notorische Tanzverächter von der Schönheit und Faszinationskraft der Ballettkunst zu überzeugen.

Die Ballettomanen lagen ihm sowieso zu Füßen. Schon zu Nurejews Zeiten staunten Kenner, wie animiert die Wiener Truppe dessen technisch schwierige und ästhetisch höchst anspruchsvolle Choreographien umzusetzen wusste, jedenfalls solange der Meister selbst noch ein Auge auf sie hatte und zu Gastauftritten erschien. Manch einer träumte von einem Ballettchef Nurejew, doch dem waren die Leistungen der Wiener Tänzer, so sehr sie auch über sich selbst hinauszuwachsen schienen, nie gut genug. Er fand harte Worte, als man an ihn die Idee herantrug, sich der Staatsoper als Ballettdirektor zur Verfügung zu stellen – und ging stattdessen für einige Jahre nach Paris.

Dort fand er für seine Zwecke das richtige Umfeld – eine hoch motivierte, technisch schon vor seiner Zeit exzellente Compagnie und nicht zuletzt ein Publikum, das (wie sonst nur das der englischen Hauptstadt) den Tanz mindestens so hoch schätzt wie die Oper – eine Einstellung, die in Wien vermutlich nie auch nur annähernd zu erreichen sein wird.

Was Nurejews gelehriger ,,Ziehsohn" Manuel Legris in den vergangenen drei Jahren gelang, ist freilich dazu angetan, die Gewichtungen zumindest ein klein wenig zugunsten des Balletts zu korrigieren: Die Auslastungszahlen zeigen bereits, daß nun auch die Tanzaufführungen vom Publikum voll angenommen werden.

Es scheint also nur natürlich, daß man angesichts dieses Aufwärtstrends die Kür wagt und Wiener Produktionen in Paris präsentiert. 18 Vorstellungen sind im Châtelet avisiert – und, wie man hört, schon gut verkauft. Ein Gastspiel, auf dessen Echo man in Wien gespannt warten wird.

KRITIK

Nurejew-Gala. Wiens Staatsballett bereitet sich mit dem nun schon traditionellen Saisonfinale auf eine besondere Herausforderung vor: Im Juli absolviert die Compagnie ein Gastspiel in der Ballettmetropole Paris.

Auf der Suche nach dem Charisma des Größten

Alle Jahre wieder erinnert die Tanzcompagnie der Wiener Staatsoper an Rudolf Nurejew. Heuer kam der nunmehr schon traditionellen Saisonabschlussgala im Namen des großen Tänzer-Choreographen der Rang einer besonderen Ehrung zu, jährt sich doch 2013 der Geburtstag Nurejews zum 75. Mal. Für Wiener Ballettomanen ist die Erinnerung an diesen Künstler noch hellwach. Für die heutige Tänzergeneration ist Nurejew bereits im Rang einer Legende – wie Nijinsky, aber für die Wiener Truppe von höchster Bedeutung. Nicht nur der erinnernswerten Auftritte des Künstlers wegen, sondern auch deshalb, weil er einige der dauerhaftesten choreographischen Arbeiten in Wien einstudierte.

Der ,,Schwanensee" – einst mit der Fonteyn in Wien verfilmt – steht bis heute im Repertoire. Daß man in der Ära Holender die klassischen Dekorationen vernichtet und durch völlig unzureichende neue Bühnenbilder ersetzt hat, ist ein Schandfleck in der Wiener Ballettgeschichte, der kommende Spielzeit getilgt werden soll. Fragmente aus den beiden Wiener Tschaikowsky-Arbeiten Nurejews waren in der Gala am vergangenen Samstag zu sehen – Dornröschen hat man mittlerweile ja durch eine andere Choreographie ersetzt, doch durften Maria Yakovleva und Robert Gabdullin den großen Pas de deux aus Nurejews drittem Akt gestalten – ein wenig vorsichtiger und zögerlicher als selbst der älter werdende Nurejew sich seinerzeit anläßlich der letzten Aufführungen, die er selbst, an der Seite der formvollendeten Gisela Chechs, mitgestaltete, zugemutet hat.

Die Musen feuern ihren Apollo an

Aber wir halten in einem anderen Äon, die Ansprüche, die Tanzkünstler an sich stellen, sind andere geworden, anders gewichtet, jedenfalls. Betrachtet man Roman Lazik in Balanchines ,,Apollo", so gewinnt man den Eindruck, die sehr guten Solisten unserer Tage setzten andere Prioritäten als die Vorbilder der Nurejew-Ära. Sicherheit, ästhetisch makellose Linienführung geht jedenfalls vor Expressivität. Der Musenführer wird eher von seinen Musen geführt, als daß er sie formte. Ketevan Papava und Nina Polakova bringen quirlige Energie ein, Olga Esinas Terpsichore hat nebst Eleganz und Sicherheit ganz offenbar auch Humor. Den braucht man, um Balanchines genialen optischen Kontrapunkt zu Igor Strawinskys (diesmal um die ,,Geburt Apollos" verkürzter) Musik zu verstehen: Lazik hält sich eher an die objektiv-klaren Lineamente der nur für Streicher und quasi auf den weißen Tasten des Klaviers beinah ohne jegliche Chromatik komponierten Partitur. Seine Musen peppen die akustische Glätte optisch mittels etlicher Farbwerte auf.

Wirklich ausdrucksstark getanzt wurde im Rahmen dieser Gala von Kirill Kourlaev und Irina Tsymbal, die in der Schlafzimmerszene von Kenneth MacMillans ,,Meyerling" die dekadenten Seelenwirrsale von Mary Vetsera und Kronprinz Rudolf in grandios geknüpften und wieder aufgelösten gordischen Bewegungsknoten spiegelten.

Das hob sich von den elegant absolvierten, doch weit weniger beredten Aktionen Eno Pecis und seiner Gefährten im Pas de cinq aus dem ,,Schwanensee", vor allem aber von der choreographischen Beliebigkeit von John Neumeiers ,,Vaslaw" käftig ab. Zwar, die Hommage an Nijinsky im Rahmen einer Hommage an Nurejew, gelang Denis Cherevychko mit der rechten Mischung aus Virtuosität und Charaktersierungskunst – immerhin geht es da um die Tagträume des wahnsinnigen Tanzstars, der sich dabei in stilisierten Krämpfen zu winden hat. Doch will man nicht glauben, daß einem Nijinsky selbst im Albdruck stilistisch dermaßen zusammenhanglose, uncharakteristische Schritt folgen erschienen sein sollen, wie sie die Truppe rund um den geschundenen Anti- Helden hier exekutieren muss.

Junge Talente stellen sich vor

Immerhin: Unter den dieserart Bewegten fallen neue Namen wie jener von Prisca Zeisel auf, eine junge Tänzerin von spürbar großem Potenzial. An Nurejews einstige eruptive Kraft, die sich zur Kultiviertheit, die in Wien offenbar nach wie vor mit Liebe gepflegt wird, immer dazugesellte, erinnerte diesmal vor allem Mihail Sosnovschi, der an der Seite der zurückhaltenden Diana Kiyoko Hashimotos in Waganowas Pas de deux einen lustvoll sprungmächtigen Aktaion gab. Aus dem wienerischen Repertoire gab es eine Wiederbegegnung mit Maria Yakovlevas unirdisch schwebender ,,Sylphide". Als Gastspiel erfreute Aurélie Dupont mit einem späten Debüt an der Seite von Ballettchef Manuel Legris in Neumeiers ,,Sylvia"-Duett, ein sanftes Echo einstiger Höhenflüge. Zur vollen Form konnte die Wiener Truppe auflaufen, als nach der zweiten Pause der dritte Akt der ,,Raymonda" zum veritablen Galafinale wurde. Olga Esina und Vladimir Shishov hatten da Zeit und Luft, ihre Leistungen, umrahmt vom stilistisch wunderbar einheitlich agierenden Corps de ballet sukzessive zu steigern – wie auch das Orchester unter Kevin Rhodes mehr und mehr in Fahrt zu kommen schien. Jubel, und die besten Wünsche für die Reise nach Paris.

Auf einen Blick

Wiens Ballettwunder hat einen Namen: Manuel Legris, 1964 in Paris geboren, an der Pariser Oper ausgebildet und ab 1980 dort engagiert. 1986 ernannte ihn der damalige Direktor des Pariser Opernballetts, der Weltstar Rudolf Nurejew (1938-1993) zum Danseur Etoile. Seit 2010 ist Legris, dessen Spezialität die Revitalisierung von Ballettklassikern ist, Leiter des Österreichischen Staatsballetts und führt auch die Ballettschule.