Beethovens Akademie

Beethoven und seine Bayreuther Dimensionen

Konzerthaus. Philippe Jordan rekonstruierte mit den Wiener Symphonikern, der Singakademie und etlichen Solisten des Meisters große Akademie von 1808: Man spielte und sang unermüdlich von sechs bis elf.

So war das einst: Der Meister rief zum Konzertmarathon - und das Publikum hörte an einem Abend zwei Symphonien, ein Klavierkonzert und Vokalmusik. Vier Stunden Programm; zum Glück ist das Konzerthaus anno 2020 im Gegensatz zum damaligen Theater an der Wien beheizt. So konnte man das Remake in Ruhe genießen; oder via Livestream zu Hause verfolgen - oder beides: Wer zur Pause wechselte, konnte feststellen, wie klangsatt die ORF-Technik via "fidelio"-Plattform den Klang ins Zimmer transferiert.

Philippe Jordan und seine Wiener Symphoniker zogen in diesem Rahmen noch einmal Bilanz über ihre Beethoven-Arbeit. Die Sechste zum Einstand wirkte zwar nicht so homogen wie beim ersten Mal, aber nach wie vor ungemein detailverliebt und schlank musiziert. An der Fünften ließ sich aber Jordans Beethoven-Bild perfekt studieren.

Zwischen den Sätzen lässt der Dirigent keine Hustenpausen zu; die Spannung muss aufrecht bleiben. Selbst letzte Reste romantischer Interpretationstraditionen sind getilgt. Das Seitenthema des Kopfsatzes etwa wird streng im Tempo genommen, der Puls wird eher nervöser als ruhiger. Nirgendwo aber wird das Klanggeflecht intransparent. Die Aufführung wird bei aller stürmischer Attitüde zum Muster an Präzision.

Im Zweifel entscheidet Jordan für die Genauigkeit, gegen Hörer-und Spieler-Leidenschaften, auch gegen dramatische Stimmungsmalerei, etwa bei der Überleitung vom Scherzo ins Finale: Das Pianissimo siedelt beeindruckend nah an der Hörschwelle, doch das bleibt ein bemerkenswertes technisches Phänomen, wird nicht zum theatralischem, gar "metaphysischen" Effekt.

Präzision! Nur keine Metaphysik!

Übertriebenen Deutungen dieser angeblichen "Schicksalssymphonie" misstraut der Dirigent, lässt keine bedeutungsschwangeren Akzentsetzungen zu; bei Fermaten hält er sich nie zu lange auf. Womit er eher die sachliche Denkungsweise der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Spitze treibt, als Anleihen bei der viel zitierten Klangrede der Originalklang-Ära zu nehmen.

Der Notentext ist das Maß aller Dinge, der, den Beethoven notiert hat, nicht der, den gedruckte Ausgaben oder die Spieltradition überliefern: Wiederholungen werden alle beachtet, sogar jene im Scherzo, die nur im Originalmanuskript steht . . .

Der Effekt ist dennoch alles andere als sachlich oder gar trocken. Jordans Beethoven reißt mit. Ein Werbetexter dürfte sagen: Wo con brio draufsteht, ist auch brio drin - das führt zur spontanen Standing Ovation.

So wird dem Publikum die Zeit zwischen 18 und 23 Uhr nicht zu lang. Auch dann nicht, wenn zum Finale ebenso grandios angelegte, aber vielleicht nicht ganz so substanzreiche Musik auf dem Programm steht wie die Chorfantasie, in der Heinz Ferleschs Singakademie ihre große Viertelstunde feiern durfte. Sie war zwischendurch schon in den Sätzen aus der C-Dur-Messe zu hören. Da führte Jacqueline Wagner, die mit klarer, sicherer Sopranstimme die Konzertarie "Ah perfido" gesungen hatte, das Solistenquartett mit Anke Vondung, Allan Clayton und Hanno Müller-Brachmann an. In der Fantasie ergänzten Miriam Kutrowatz und Franz Gürtelschmied die Riege zum wohl ausgewogenen Sextett.

Nicholas Angelich hatte in die Rolle zu schlüpfen, die Beethoven 1808 als sein eigener Solist gespielt hat - "ein saures Amt" zumal dann, wenn man Fantasien vom Blatt spielt und ihnen damit alles Fantastische, Freie nimmt. Aber schon das G-Dur-Konzert klang eher buchstabiert als musiziert.