Berliner Livestream

Zwischentöne Vor dem Shutdown oder "nach dem Krieg um halb sechs"? Via Livestream vermittelten die Berliner Philharmoniker, was wirkliche Notsituationen sind und was es heißt, wenn Musiker nicht spielen.

Nach dem Krieg um halb sechs im Kelch - so verabredet sich Jaroslav Haseks "braver" Soldat Schwejk mit dem Kameraden. Pünktlich nach dem Krieg hatte die Musikgeschichte Vergangenheitsbewältigungsklänge zu liefern. Vor dem Shutdown konnten die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten einige davon zum Klingen bringen. Via Livestream war die Welt dabei. Sie vernahm zwei musikalische Kommentare auf die Ereignisse von 1945, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Richards Strauss mit seinen "Metamorphosen" angesichts zerbombter Opernhäuser den Untergang der europäischen Kultur besang und dabei Beethoven zitierte, verwirrte Dmitri Schostakowitsch den Triumphator Josef Stalin, indem er ihm das erwartete pathetische Klangmahnmal verweigerte: Seine Neunte hätte - vor allem nach der Siebenten, die eine tönende Durchhalteparole für die verzweifelten Menschen im belagerten Leningrad war, und der von der Schlacht um Stalingrad "inspirierten" Achten - eine sowjetische Freuden-Ode werden sollen.

Doch sie wurde eine nur zwischendurch sehr nachdenkliche, rundherum mehrheitlich spritzig-zynisch-hintergründige, klassizistisch geformte "Sinfonia", die Kirill Petrenko mit derselben feinen Klinge musizieren ließ wie zuvor die Strauss-"Metamorphosen", die er - anders als sein großer Vorgänger Karajan - nicht vom ganzen, üppigen Streicher-Corps der Berliner spielen lässt, sondern lediglich von den vom Komponisten vorgeschriebenen "23 Solostreichern".

Jeder einzelne von ihnen sorgt für subtil modellierten, dynamisch sorgfältig kontrollierten Schönklang - woraus sich ein verästeltes Klanggewebe ergibt, wie es auch hernach bei Schostakowitsch, um Bläser und Schlagwerk bereichert, nicht minder transparent und feingliedrig zum Ereignis wird. Kirill Petrenko scheint mit seinem Orchester wirklich in einer eigenen Liga zu spielen; dank "Digital Concert Hall" kann die Welt zuhören.

Auch - und gerade - wenn weltweit die Konzerthäuser zusperren müssen, ist dieses Angebot unschätzbar. Petrenkos Zugabe schien zeitgemäß: Er dirigierte John Cages "4 Minuten, 33 Sekunden" - und schaffte immerhin fast drei Minuten tatsächlicher Stille bei spürbarer Hochspannung im Saal: So kann das sein, wenn Musiker nicht spielen (dürfen).

Das geht unter die Haut, auch wenn man weiß: Nach dem Shutdown um halb acht geht's wieder weiter.