Carmen, filmreif

Elina Garancas erste Wiener Carmen mit Roberto Alagna: Filmreif

Staatsoper. Dank Bertrand de Billy am Dirigentenpult formen Chor und Orchester des Hauses eine dramaturgisch stringente Wiedergabe von Georges Bizets Meisterpartitur. Die subjektiven Sängerleistungen entfalten sich da ungehindert – und präsentieren doch ein packendes Ganzes.

Es ist ein hübsches Aperçu, das sich die Staatsoper leistet: Während des ,,Rings des Nibelungen" zu Wagners 200. Geburtstag gibt man Bizets ,,Carmen" – ein Werk, das Friedrich Nietzsche einst den glühenden Wagnerianern als Kurmittel anempfohlen hat. Musik sei das, so der Philosoph, die ,,nicht schwitzt". Das tut sie tatsächlich nicht, wenn Bertrand de Billy am Dirigentenpult steht. Der Maestro hat im Kontakt mit dem Staatsopernorchester eine Lockerheit erreicht, die es ihm ermöglicht, vom ersten Ton an zu attackieren – und auf Punkt und Komma seine Interpretation umzusetzen.

Diese kleistert nichts mit dem melodischen Popularitäts-Bindemittel zu, setzt auf changierende Farbgebung, subtile Akzente – und zwingt, Chapeau!, sogar den Chor zu erstaunlichen Differenzierungsleistungen: Das Finale II changiert, wie vorgeschrieben, zwischen piano und fort, statt es gewohnheitsmäßig einheitlich bei Letzterem zu belassen.

Die Folge ist eine dynamisch bewegte, aufregend getaktete Aufführung, die mit höchster dramaturgischer Dringlichkeit die höchst eigenwilligen Einzelleistungen der Darsteller in eins zwingt. Da ist die lang erwartete Carmen der Elina Garanca, blond, kühl, jeder Augenaufschlag berechnend und von arroganter Selbstgewissheit. Wie über jede Carmen-Deutung wird auch über diese in den Pausen heftig diskutiert. Daß die Garanca nach Langem wieder eine Sängerin ist, die eine echte Interpretation anzubieten hat, muss jedoch außer Frage stehen.

Die Garanca lotet in Seelentiefen

Das introvertierte, ungemein expressiv gesungene Todessolo im Karten-Ensemble des dritten Akts (flankiert von den wohlklingenden, aber rhythmisch hie und da trägen Zigeunermädchen Ileana Tonca und Juliette Mars) erweist eminente Differenzierungskunst: Allein geblieben, lässt diese Carmen alle Masken fallen, lotet in Seelenabgründe. Die ahnt wohl der José Roberto Alagnas schon im elegant geschliffenen Gesang von Habanera und Seguidilla und verfällt dieser Figur mit Haut und Haar. Das lässt er die Zuschauer fühlen: Stimmlich in Hochform, findet er im Duett mit der herb-frischen, gefühlvoll und anrührend singenden Micaëla Anita Hartigs noch die von Bizet vorgeschriebene, edel phrasierte Pianolinie.

In der Blumenarie wirft er alle Stilvorschriften über den Haufen und eifert – sehr erfolgreich – großen Vorbildern nach, die dem José mehr mit veristischen Mitteln begegneten. Zuletzt gibt es am Akt- Schluss noch ein hohes C, das in der Partitur so wenig steht wie das lang ausgehaltene F, das sich Einspringer Massimo Cavalletti im Torerolied gönnt – und das nicht ganz die (wie bei den meisten Mitbewerbern) fehlende Escamillo-Tiefe zu kaschieren vermag. Alles in allem aber: ,,Carmen" filmreif. Nicht nur dank der Finalszene, in der die Spannung zum Greifen scheint: In den Generalpausen herrscht im Saal Totenstille.