Es gibt den idealen "Ring"

CD und DVD. Dieser Tage hätte letztmals in der Ära Dominique Meyer Wagners Hauptwerk über die Staatsopernbühne gehen sollen. Tipps für häusliche Ersatzaufnahmen.

Jetzt sind wir also in unsere eigenen vier Wände verbannt, während die Staatsoper geschlossen halten muss. Dabei wäre gerade jetzt ein exzellent besetzter "Ring des Nibelungen" auf dem Programm gestanden. Sonntag wäre "Siegfried" zu erleben gewesen. Der Streamingdienst des Hauses bietet als Ersatz einen älteren Live-Mitschnitt. Wagnerianer - und solche, die es angesichts der nun erheblich vermehrten Chance, sich auf stundenlange Hörerlebnisse einlassen zu können, jetzt werden wollen - sehen sich im Übrigen vor die Wahl gestellt: Welchen "Ring" könnte man sich mit Gewinn daheim anschauen; oder anhören?

Was das Schauen betrifft, dürfen Traditionalisten auf die DVD-Edition des Mitschnitts der Otto-Schenk-Produktion von der New Yorker Met zurückgreifen (DG), die mit der Creme de la Creme der damaligen Sängerstars von Jessye Norman bis Christa Ludwig besetzt ist und von James Levine souverän, wenn auch gestalterisch nicht eben herausragend, dirigiert wird.

Das ist freilich für viele Zeitgenossen - nicht nur wegen der musikalischen Indifferenz und der keineswegs durchwegs wirklich rollendeckenden Besetzungen - kaum mehr ersprießlich.

Wer regielich drastischere Detailzeichnung verlangt und staunend studieren will, dass die heutige, international insgesamt desaströse Musiktheater-Optik durchaus räsonable Wurzeln hat, muss auf die DVD-Dokumentation des Bayreuther "Jahrhundert-Rings" von Patrice Chereau zurückgreifen. Gewiss, anno 1976 fing das seither notorische Bühnenbild-Verhängnis schon im "Rheingold" an, wenn die Rheintöchter auf einer Staumauer herumtanzen.

Patrice Chéreaus grandiose Regie

Aber was die Personenführung betrifft, ist diese Inszenierung nach wie vor unerreicht in ihrer mehrheitlich doch nachvollziehbar aus der Musik und der wagnerschen Dramaturgie heraus entwickelten Detailgenauigkeit. Momente wie die Ekstase des liebenden Zwillingspaares am Ende des ersten "Walküren"-Aufzugs (mit den jugendlich stürmischen Wotanskindern Jeannine Altmeyer und Peter Hofmann) oder die verzweifelte Opferung Siegmunds durch den Göttervater (Donald McIntyre) hat man kaum je so realistisch-packend gesehen.

Und gehört? Manch akustische Ohrenpein ist im von Pierre Boulez rasant vorangetriebenen musikalischen Fluss der damals akuten Vokalhelden-Knappheit geschuldet.

CD-Sieger nach Punkten

Wie das ist, wenn ein großer Dirigent mit einem erlesenen Sängerensemble ans Werk geht und durch suggestive musikalische Bilder jegliche Szenerie verzichtbar macht, kann man an einem Rundfunk-Mitschnitt von den Bayreuther Festspielen 1953 feststellen, den ich unumwunden als den besten CD-"Ring" bezeichnen möchte.

Hier stimmt einfach alles. Clemens Krauss ist auf dem Gipfel seines Könnens ein Mann für die stürmischen dramatischen Entwicklungen ebenso wie für die filigrane Detailarbeit in Wagners Klangpsychologie.

Und er hat ein Sänger-Team ohne Fehl und Tadel um sich geschart, mehrheitlich junge Interpreten am Beginn großer Karrieren, die im vollen Saft ihrer vokalen Möglichkeiten mit der überwältigenden Ausdruckskraft des Orchesters mithalten.

Da ist Wolfgang Windgassen, erstmals in seiner Karriere in den beiden Siegfried-Partien, die er danach für mehr als ein Jahrzehnt für sich "gepachtet" hat. Dann Hans Hotter als Wotan und Wanderer - man kennt beide Sänger aus der legendären Wiener Studio-Produktion mit den Wiener Philharmonikern unter Georg Solti, die freilich nur aufnahmetechnisch (in John Culshaws hörspieltauglicher akustischer "Inszenierung") dem Mono-Mitschnitt unter Krauss überlegen ist. Windgassen wie Hotter hatten ihren Zenit bei Solti längst überschritten.

Bei Krauss aber erleben wir sie sozusagen mit hundertprozentigen Kraftreserven. Dass Hotter ein Zögling aus den Münchner Jahren dieses Dirigenten war und wichtige Partien in dessen Richard-Strauss-Uraufführungen ("Friedenstag", "Capriccio" und "Die Liebe der Danae") gesungen hat, soll nicht vergessen werden.

Denn der Bayreuther "Ring" verrät, was Krauss schon als Wiener Staatsoperndirektor und danach in Berlin und München unter Ensemble-Pflege verstand. Unter den idealen Arbeitsbedingungen der "Werkstatt Bayreuth" konnte der Dirigent sämtliche Kräfte auf einen, seinen Kurs einschwören.

Clemens Krauss' Gewitterstürme

Daher hört man diese Aufnahme vom Strömen des Rheins bis zur abschließenden Götterdämmerung wie eine große Erzählung von unausweichlicher Intensität. Wer nur Probehören möchte, um sicherzugehen, höre das Vorspiel zur "Walküre". Ein orchestraler Gewittersturm von solcher Kraft bei gleichzeitiger meteorologischer Genauigkeit ward selten entfesselt. Dazu dann gleich das dunkel-sinnlich timbrierte Wälsungenpaar von Regina Resnik und Ramon Vinay, das später in Astrid Varnay und Windgassen als Brünnhilde und Siegfried ein beeindruckendes Gegenbild findet. Die finsteren Gesellen von Gustav Neidlinger und Josef Greindl. Es ist des Schwärmens kein Ende.

Selbst die kleinsten Partien sind luxuriös besetzt: Ein Waldvöglein wie Rita Streich, die ihm die wichtigen Botschaften ebenso jubilierend frisch wie wortdeutlich zuzwitschert, findet so bald kein Siegfried . . .

CD: Clemens Krauss, Bayreuth 1953 - Orfeo C 809 113 R. DVD: Der "Jahrhundert"-Ring, inszeniert von Patrice Chereau, Bayreuther Festspiele 1980 - DG 440 073 4057