Henze-Premiere im Netz

So schön brutal kann nur die Oper sein Staatsoper. Soweit sich das via Livestream beurteilen ließ, zeigte die musikalisch grandiose Erstaufführung von Hans Werner Henzes Mishima-Vertonung "Das verratene Meer" alles, was im Textbuch steht - und sogar noch ein bisschen mehr.

Man wird uns jetzt allseits wieder vorrechnen, wie spät Wien mit einer solchen Premiere dran ist. Und doch: Es braucht Weile, Hans Werner Henzes schillernde Orchestereffekte, mit denen er wilde, leidenschaftlich erregte oder poetisch zarte Stimmungen beschwört, wirklich vollendet zum Klingen zu bringen, sodass auch die erotisierende Klangkulisse für jene Szene entstehen kann, in der ein Halbwüchsiger seine Mutter, eine wohlhabende verwitwete Boutique-Besitzerin, beim Liebesspiel beobachtet.

Um die daraus resultierenden Verwirrungen des Zöglings Noboru geht es im "verratenen Meer" ebenso wie um seine Stellung in der Fünferbande von Dreizehnjährigen, in der er es gerade einmal zur "Nummer drei" gebracht hat.

Von "Nummer eins", Erik Van Heyningen, zynisch-überlegen gegängelt, machen sich diese jungen Wilden - vom Countertenor Kangmin Justin Kim über Stefan Astakhov bis zum Bass Martin Häßler - ihre Gesetze selbst. Und üben an einer jungen Katze ihre "Halsgerichtsbarkeit". Damit endet der erste Teil der Oper, der "Sommer".

Der "Schwächling" muss sterben

Im "Winter" weiß man dann schon, wie mit dem neuen Bräutigam von Noborus Mutter zu verfahren ist, der seiner neuen Geliebten zuliebe den ehrenvollen Beruf eines Hochsee-Offiziers an den Nagel gehängt hat.

Für den Schiffe-Fanatiker Noboru hat dieser Mann nicht nur "die See verraten". Er hat sich auch als Schwächling entlarvt, indem er auf die Entdeckung seiner voyeuristischen nächtlichen Aktivitäten mit jovialer Verzeihungsgeste reagierte. Nach einer Tracht Prügel hätte Noboru ihn vielleicht respektiert. So aber fühlt er sich nicht ernst genommen. Das Absingen altmodischer Seemannslieder ist den Jugendlichen dann zu viel. Der "Verräter" muss sterben.

Das gehört zu den Brutalitäten der Romanvorlage Yukio Mishimas, die von den narkotischen Effekten der Musik Henzes zum veritablen Melodrama weichgespült werden könnten. Zumal Henze Gut und Böse so wenig scheidet wie Mishima.

Doch anders als bei der Erstbegegnung mit den illustrativen Zwischenspielen im philharmonischen Konzert von 1995 nähert sich das Wiener Orchester unter Simone Youngs Leitung dieser Musik heute mit einer Sicherheit, wie es sonst Richard Strauss spielt: ohne Furcht vor hoher Komplexität und vor allem im Wissen um das, was zwischen den Zeilen gemeint ist.

Auch die neue Sängergeneration geht - bei filmreifer Optik - völlig unverkrampft mit den heiklen Aufgaben um, die ihnen vom Sprechgesang bis zur blühenden Belcanto-Kantilene alles abverlangen.

Bo Skovhus gibt dem stolzen, inwendig aber unsicheren und mit dem Leben hadernden "Zweiten Offizier" optisch wie vokal Profil, spinnt schlichtes Seemannsgarn und gibt im Schlafzimmer das "wilde Tier", von dem der Halbwüchsige Noboru dann leuchtenden Auges berichten kann: Josh Lovell lässt bei dieser Gelegenheit eine herrliche lyrische Tenorstimme hören, die auch ideal mit dem weichen, ausdrucksvollen Sopran seiner Mutter harmoniert.

Vera-Lotte Boeckers singt Frau Fusako Kuroda so vollendet, dass man in gewisser Hinsicht davon berichten darf, am vergangenen Montag habe in Wien die eigentliche Uraufführung des "verratenen Meers" stattgefunden: In Berlin damals war die Hauptdarstellerin heiser, durfte auf ärztliches Anraten nur ihre Rolle spielen und wurde akustisch von einer Kollegin synchronisiert, die aus Noten von der Seitenbühne sang.

Da erklangen dann zwangsläufig des Öfteren nur Näherungswerte von dem, was Henze notiert hat. Vera-Lotte Boecker singt alles. Und sie singt es mit Hingabe. In ihrem großen Monolog in der vorletzten Szene, "Ein Kleid aus Blüten werde ich tragen", gibt sie sich zu verführerisch schönen Melodiebögen der herrlichen Illusion von einem besseren Leben hin, ein paar halsbrecherische Koloraturen inklusive, die dem Komponisten erst für die japanischsprachige Zweitversion seines Werks eingefallen sind.

Das Stück ist auch zu sehen!

Wien lässt nun eine Mischfassung hören, bietet sozusagen das Beste aus beiden "verratenen Meeren". Und, ehe ich es vergesse, Wien zeigt das Stück auch, denn das Regie-Duo Jossi Wieler & Sergio Morabito lässt alles geschehen, was im Libretto steht, fügt während der illustrativen Zwischenspiele noch Erklärendes hinzu. Das ist sinnvoll, wenn etwa die Jugendbande ihre "Nummer drei" bis in die Träume verfolgt, wirkt jedoch etwas übereifrig, wo der Hörer auch ohne Bebilderung ahnen könnte, was beispielsweise jene leidenschaftlichen Klänge bedeuten, die ertönen, sobald es in Hans-Ulrich Treichels Libretto heißt: "Ryuji und Fusako schlafen ineinander verschlungen ein."

Hugo von Hofmannsthal merkt in solchen Fällen an: "Ein Baldachin senkt sich von oben langsam über beide." In Götz Friedrichs Berliner Uraufführungsproduktion des "Verratenen Meers" drehten sich dezent die Versatzstücke von Hans Hoffers eindrucksvollem Riesenbetonsilo und gaben den Blick auf die folgende Szene frei.

In Wien sieht man jetzt ununterbrochen alles. Aber, zugegeben, Anna Viebrocks notorische Lust an hässlichen Hinterhofsilhouetten hat in diesem Fall Methode. Die Lichtregie imaginiert die nötigen Stimmungsumschwünge und die Kostüme sind realistisch von der Uniform bis zum Kimono. Also: "Das verratene Meer", ganz und gar.