Interview Chen Reiss

Im bürgerlichen Glück spiegelt sich Leonores wahre Größe

Die Sopranistin Chen Reiss singt die Marzelline in der Urfassung im Theater an der Wien sowie in der bekannten Letztversion im Repertoire an der Staatsoper. Sie muß sich nun von Aufführung zu Aufführung umstellen.


Chen Reiss ist die Marzelline in Beethovens "Fidelio" an der Staatsoper. Und zwar sowohl in der Neuinszenierung der Urfassung als auch bei den Reprisen der viel gespielten Produktion Otto Schenks, die seit ihrer Premiere zum Beethoven-Jahr 1970 bereits 260 Mal zu sehen war, des Öfteren auch schon mit Chen Reiss in der Partie der Marzelline. Die Sängerin muss sich nun von Mal zu Mal umstellen.

"Das Schlimmste", sagt sie, "war die Arie. Sie fängt genau gleich an, aber es gibt etliche kleine Änderungen, rhythmisch, auch bei den Tonhöhen - und sogar der Text ist ein wenig anders. Ein Stück, das man schon so oft gesungen hat, umzulernen, ist viel schwieriger, als neue Stücke zu lernen."

Die von Beethoven gestrichenen Nummern, die sie nun für die Premiere am 1. Februar einzustudieren hatte, hätten vieles bestätigt, "was ich immer schon über Marzelline dachte: In der ursprünglichen, längeren Version hat sie mehr Profil, wird sogar zu einer echten Gegenfigur zu Leonore, die man dadurch als jene außergewöhnliche Frau begreift, die sie darstellt."

Marzelline akzeptiert ja die Rolle der Frau zu jener Zeit ohne Wenn und Aber. ",Ein Mädchen darf ja, was es meint, zur Hälfte nur bekennen', singt sie und geht im Duett mit Leonore, das in der Spätfassung gestrichen ist, noch viel weiter, indem sie sich vollkommen Fidelios Willen unterwirft und von einer Großfamilie träumt - mit dem Vater und Kindern. Sie spricht von Glück, Leonore aber spricht von der Liebe, von einer Liebe, die so stark ist, dass sie bereit ist, für ihren Mann in den Tod zu gehen."

Eine neue CD

Wovon Beethoven träumte. "Das war die Frauengestalt", sagt Chen Reiss, "von der Beethoven fasziniert war". Nicht von ungefähr heißt die neue CD der Sopranistin "Die unsterbliche Geliebte" (onyx). "Ich glaube, seine wirkliche unsterbliche Geliebte war die Musik. Sie hat ihn nie enttäuscht. Aber er hat immer wieder seine Musik starken Frauengestalten gewidmet. Etwa Leonore Prohaska, die ja wirklich gelebt hat, in Männerkleidern in den Krieg gegen Napoleon gezogen und beim Versuch gestorben ist, einen verwundeten Kameraden zu bergen."

Die Romanze aus Beethovens Schauspielmusik zu "Leonore Prohaska" klinge schon beinahe wie ein Schubert-Lied, meint die Sängerin, "aber sonst klingt alles nach Beethoven. Man erkennt seine Handschrift sofort, schon in der Arie aus der Kantate auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwürde, in der die Hoffnung auf eine bessere Welt zum Ausdruck kommt. Aber auch in den Vertonungen italienischer Texte." Etwa im Falle der Arie "No, non turbarti", die unter der Aufsicht von Antonio Salieri entstand. Chen Reiss ist fasziniert davon, dass ein arrivierter Komponist sich zum Studium der Behandlung der Singstimme noch einmal unter die Obhut eines erfahrenen Kollegen begeben hat: "Er war unsicher, was die menschliche Stimme betrifft. Und seit ich diese CD aufgenommen habe, weiß ich auch, warum. Für Beethoven existierte, sagen wir es so, das Konzept Passaggio nicht." So nennt man die Behandlung des gesangstechnisch heiklen Übergangs zwischen dem Brust- und Kopfregister. "Beethoven führt die Stimme immer wieder durch die Passage und ,parkt' oft dort. Abgesehen davon aber könnte diese Arie niemals von Salieri sein. Es ist immer Beethoven. Denn bei ihm geht es niemals nur um das schöne Singen. Es geht immer um das Drama."

Ebenfalls auf der neuen CD ist die große Szene "Primo amore": "Man dachte lange Zeit, die müsse aus der Salieri-Zeit sein, aber ist viel älter, noch in Bonn komponiert, wurde aber zunächst unter dem Titel ,Erste Liebe, Himmelslust' auf Deutsch komponiert. Aber in Wien hat ihm der Verlag den Text in italienischer Übersetzung übersandt, und er hat zugestimmt."

Es ist "ein früher Versuch mit einer sogenannten ,großen Szene'. Die erste Liebe sei ein Gottesgeschenk, heißt es, aber auch die größte Qual, wenn die Geliebte einen anderen wählt. Das war eine Prophetie für Ludwig van Beethovens Leben, nicht nur für die Sängerin, für die er diese Arie komponiert hat, Magdalena Willmann, in die er verliebt war, sondern für sein späteres Leben. Magdalena hat er übrigens in Wien wieder getroffen und noch ein Stück für sie komponiert." Nachtragend war er nicht.