Julius Bittner: Wiederentdeckung eines österreichischen Spätromantikers

Daß diese CD von einem russischen, genauer: einem sibirischen Orchester aufgenommen wurde, dafür sollten wir uns eigentlich genieren. Aber jetzt einmal: Seien wir froh, daß wir sie haben. Unter Dmitri Vasiliev spielt das Orchester aus Omsk mit Schwung und großer Geste auf, genau wie es diese Musik braucht. Sie stammt aus der Feder eines der erfolgreichsten österreichischen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Julius Bittner war im Ausklang der Monarchie und die Jahre danach dank Werken wie "Der Musikant", "Die rote Gred", „Bergsee“ oder „Höllisch Gold“ von Interpreten wie Bruno Walter, Clemens Krauss oder Franz Schalk ebenso geschätzt wie von der Kritik und vom Publikum.

Gustav Mahler hatte vor seiner Demission die "Rote Gred" für die Uraufführung an der Hofoper angenommen. Bittners Stücke galten als durchaus volkstümlich, die Musik als nachwagnerisch, aber gar nicht avantgardistisch. Anders als manche Kollegen legte er seine reichen harmonischen Fantasie stets Zügel an - auch kühne modulatorische Passagen münden stets in eindeutig definierte Dur- und Moll-"Oasen".

Doch der Ruhm Bittners verblaßte rasch. Selbst Sujets wie das der vom Spionageskandal um Oberst Redl inspirierten "Mondnach" konnten daran nichts ändern. Wie viele seiner bewußt nicht-avantgardistisch orientierten Kollegen hat man Bittner nach 1945 fast völlig vergessen.

An der Ignoranz der Nachgeborenen tragen vermutlich nicht nur die spätromantische Tonsprache, sondern (wohl vor allem) die "heimatlichen" Sujets seiner selbstgedichteten Libretti die Schuld. Chthonische Liebes-, Polit- oder Rachegeschichten lassen wir uns von Italienern gern auf der Bühne vorführen, nicht aber, wenn wir den Text verstehen. Auf Deutsch taugen solche Dinge nur fürs TV-Abendprogramm. Dort fände Bittner heute als Drehbuchschreiber sein Auskommen, wohl auch als Mann für die musikalische Untermalung.

Und da haben wir schon die Malaise. Bittners Musik ist nämlich viel zu gut, um unter dem Filmmusik-Rubrum abgelegt zu werden. Die viersätzige Symphonie aus dem Jahr 1923 zeigt, wie dieser Komponist perfekte Formbeherrschung mit Fantasie zu kombinieren wußte. Allein die heftigen Klangscharmützel, die in der Durchführung des Kopfsatzes zum Höhepunkt und Zusammenbruch führen, zeigen den Dramatiker. Das Adagio, ein großer 15-minütiger Bogen, ist von harmonischem Reiz und melodischer Schönheit.

Typisch für den späteren Bittner ist das raffinierte Gegeneinander von Dur-Moll-Tonalität und herberen Passagen, in denen oft archaisierende Quart- und Quintklänge dominieren und die Melodik vom sperrigen Intervall der großen Septim beherrscht ist.

Ab dem Scherzo muß Bittners Erste dann gar keinen Vergleich mehr scheuen. Das ist ein aus dem österreichischen Ländler geborener Totentanz, wie er sich bei Mahler nicht grotesker findet.(Die gestopften Trompeten scheinen sogar auf Bartóks "Konzert für Orchester" vorauszuweisen . . .)

Das Finale ist ein rasanter, dämonischer Kehraus, der erst ganz zuletzt in eine triumphale Apotheose des Hauptthemas mündet. Wer die allzu platt findet, zieht vermutlich auch bei Schostakowitsch den Kopf ein. Im übrigen wird jeder Liebhaber musikalischer Spätromantik Bittners Werk wohl als guten Beitrag zur Geschichte der nachmahlerschen Symphonie lieben lernen.

Die sibirischen Interpreten fördern mit scharfen Bläserakzenten übrigens auch in der eingangs gespielten Tondichtung ,,Vaterland“ von 1916 die Schostakowitsch-Assoziationen ein wenig, aber nicht zu sehr. Es ist schon genuin österreichische Musik, die hier zu entdecken ist.

Weshalb der Dank für diese Wiederentdeckung von der Donau weit hinter den Ural geht – verbunden mit der Hoffnung, die Bezeichnung „Orchesterwerke Vol 1“ möge tatsächlich eine Fortsetzung suggerieren.