Max Regers Orchester- und Chorwerke

Er gehört zu den bekannten Unbekannten der Musikgeschichte. Igor Strawinsky fand ihn als Menschen „ebenso unsympathisch wie seine Musik“, Arnold Schönberg hielt ihn für einen der bedeutendsten Komponisten seiner Generation. Die Meinungen über Max Reger gehen bis heute auseinander. Sofern man sich Meinungen über ihn bildet. Bezeichnend ist ein Brief Schönbergs an seinen Schwager Alexander von Zemlinsky, in dem er schrieb: „Reger muss meiner Meinung nach oft aufgeführt werden, 1. weil er viel geschrieben hat; 2. weil er bereits tot ist und man noch immer nicht Klarheit über ihn besitzt (ich halte ihn für ein Genie).“

Klarheit besitzt die Musikwelt wohl nach wie vor nicht. Denn sie hat es verabsäumt, Schönbergs Ratschlag zu befolgen. Aufführungen von Regerschen Werken gehören zu den absoluten Raritäten in den internationalen Spielplänen. Für die Meister der sogenannten Zweiten Wiener Schule gehörten sie freilich zu den interessantesten Kompositionen der damals jüngsten Musikgeschichte. Im legendären „Verein für musikalische Privataufführungen“ war Reger eine Zeitlang der meistaufgeführte Komponist.

Und alle Schüler Schönbergs waren von der Meinung ihres Meisters durchdrungen – der große Pianist Rudolf Serkin, der sich als Interpret im Schönberg-Umfeld seine ersten Sporen verdiente, war einer der ganz wenigen bedeutenden Interpretenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die sich konsequent für Regers Musik stark machten. Als Serkin in der New Yorker Carnegie Hall Anfang der Siebzigerjahre Regers „Bach-Variationen“ spielte, titelte der allmächtige Musikkritiker Harold Schonberg seinen Vorbericht mit den Worten: „Nobody wants to play Max Reger“.

Keiner will Reger spielen. Serkin einmal ausgenommen, der sogar Eugene Ormandy überreden konnte, mit ihm das sperrige Klavierkonzert für Schallplatten aufzunehmen. Das ist (nebst Karl Böhms Einspielung der „Mozartvariationen“) seither eine der wenigen wirklich herausragenden Interpretationen von Musik dieses Meisters im Katalog.

Nun gibt uns erstmals eine CD-Edition die Möglichkeit, zumindest die Orchesterwerke Regers zu überblicken: „Max Reger. Orchestral Edition“ heißt die Box, die auf zwölf Silberscheiben unter Rückgriff auf eine – aufnahmetechnisch übrigens exzellente – Aufnahmeserie der Firma Koch/Schwann so gut wie alles zusammenfasst, was von diesem Komponisten für Orchester instrumentiert wurde – auch Chorwerke und Lieder, womit vor allem das Spätwerk gut dokumentiert ist.

Denn Reger profilierte sich mit Kammermusik, mit Klavierwerken und vor allem als Orgelkomponist, der in den harmonischen Gefilden der spätesten Romantik die alten Traditionen des deutschen Kontrapunkts noch einmal hochleben ließ.

Beim Versuch, Bachsche Vielstimmigkeit am Vorabend der Moderne noch einmal zu beleben, weitete Reger die Möglichkeiten der Tonalität bis an deren Grenzen. „Ein Schritt weiter, und er ist einer der Unsern“, soll Schönberg gesagt haben. Tatsächlich weiß sich der Hörer bei vielen Regerschen Werken über weite Strecken kaum noch zu orientieren – nur Zeitgenossen wie Zemlinsky oder Franz Schreker modulieren ebenso haltlos; wobei Schreker – anders als Reger – dann meist kaum wieder „nach Hause findet“, während Regers Werke immer wieder deutliche Dur- und Moll-Traversen einziehen, um die kompositorischen Gebäude zu befestigen.

Die sind immer wieder von monumentaler Größe. Dass Reger keine Symphonie komponiert hat, sondern sein einschlägiges mehrsätziges Werk „Sinfonietta“ nennt, ist eine von den vielen sprachlichen Verniedlichungen und bewussten Ironisierungen, deren Regers Äußerungen und Erläuterungen durchwegs reich waren – das Werk dauert knapp 50 Minuten, also länger als jede Brahms-Symphonie . . .

Und der „Symphonische Prolog zu einer Tragödie“, mit dem der Programm-Reigen der CD-Edition anhebt, dauert mehr als eine halbe Stunde – Reger handelte, wie man schon an diesem Werk hören kann, die formalen Problemstellungen der Symphonik also auf seine Weise ab, ohne sich um die Nomenklatur zu scheren.

Des weiteren entdeckt man zwischen viel dick Orchestriertem und Ausuferndem sogar charmante Serenaden und eine Ballett-Suite, pittoreske Beiträge zur Programm-Musik wie die fantastisch malerischen „Tondichtungen nach Arnold Böcklin“ oder die pastellig-farbige „Romantische Suite“ nach Eichendorff, Versuche „im alten Stil“ oder die wuchtig ausgreifenden Konzerte für Klavier und Violine. Dazu die wohl bekanntesten Werke, die Variationen über Themen von Hiller und Mozart. Wer also eine unbekannte Ecke der Spätromantik durchforsten möchte, hat jetzt die Chance, sich selbst eine Meinung zu bilden.

Die DG griff auf die verdienstvollen Aufnahmen Horst Steins aus dessen Bamberger Amtszeit zurück, womit der Grundstock der Edition der Arbeit eines exzellenten Musiker zu verdanken ist.

Von den orchesterbegleiteten Vokalwerken beeindruckt der „100. Psalm“ am allermeisten, dessen stürmischer Anfang in der Chorliteratur Seinesgleichen sucht. Die Lieder (und auch die von Christa Ludwig einst zu philharmonischen Ehren erhobene „Weihe der Nacht“) singt Lioba Braun mit wohlig-rundem Mezzo. An den Interpreten liegt's jedenfalls nicht . . .

Max Reger Orchestral Edition: mit Horst Stein, Roland Bader. Gerd Albrecht (Dirigenten), Bamberger Symphoniker, NDR Sinfonieorchester, Deutsches Symphonieorchester, Berlin. Gerhard Oppitz (Klavier), Walter Forchert (Violine), Lioba Braun (Mezzosopran). DG 479 9983