Musik und Natur

Muss sich ein Kuckuck an Beethoven halten?

Die Zeiten der Isolation haben auch ihr Gutes. Wer Wald und Feld rings um Wien durchstreift und das Glück hat, dass kein Windkraftwerk akustisch und optisch die Eindrücke trübt, kann ungestört den Vögeln lauschen.

Die Klimadiskussion sollen wir nicht vergessen. Das wird derzeit immer wieder eingemahnt. Und es wird berechnet, wie sehr der weltweite Ausfall von Flügen und sonstigen Schadstoff-Emittenten der Atmosphäre nützt. Der akustische Aspekt wird dabei gern vernachlässigt. Dass jetzt nicht im Minutentakt die Jets über uns hinwegdonnern, hat für hellhörige Gemüter den positiven Nebeneffekt, dass es stiller draußen im Land wird.

Man muss derzeit nur Landschaften finden, die optisch noch nicht durch die Verheerungen der Windrad-Industrie zerstört wurden. Wer nicht inmitten eines Kraftwerks spazieren gehen möchte, muss die euphemistisch "Windparks" genannten Zonen meiden - und das werden rund um Wien immer weniger.

Aber wer das Glück hat, sein Auge über eine liebliche bewaldete Hügellandschaft schweifen lassen zu dürfen, ohne von 200 Meter hohen Vogelscheuchen-Turbinen umzingelt zu sein, der erlebt derzeit einen Frühling, wie er selten war. Zumindest in meiner Erinnerung hat es lang nicht mehr so herrlich geduftet; und auch was man hören kann, weckt Erinnerungen an manches romantische Frühlingsgedicht.

Und an die musikalischen Opfer, die dieser Jahreszeit willig gebracht worden sind. Man lauscht den summenden Bienen und Hummeln unter blühenden Bäumen. Und hört die Vögel singen, so ungestört wie vielleicht nie zuvor.

Wie genau ruft es aus dem Wald?

Singen, rufen und schreien - mit welchen Vokabeln wurden die Nachtigallen, Finken und Meisen nicht schon bedacht? Und der prägnanteste von allen, der Kuckuck. Wie der "aus dem Wald ruft" lernen wir ja schon als Kind zu singen.

Der abfallende Kleinterz-Ruf ist so sprichwörtlich (oder sollte man sagen singtonlich?) geworden wie die Trara-Quart der Feuerwehr, die sogar beinah unbeschadet die aus Amerika importierte Sirenen-Revolution überlebt hat.

Der Kuckuck hat sich mit seiner Terz ja geradezu in den genetischen Code unseres Musikverständnisses eingeschrieben. Freilich kommen wir bei unseren Wanderschaften in der derzeit so ungewohnt von allen zivilisatorischen Störgeräuschen befreiten Natur rasch darauf, dass uns Volks- und Kunstlied einen etwas reduzierten Begriff von den Vogelstimmen geben.

In der Wirklichkeit von Hain und Flur ruft mancher Kuckuck zwar so, wie er's laut Kinderlied in der Kuckucksschule gelernt haben sollte. Es gibt aber Dissidenten, die sich um die kleine Terz nicht scheren. Das hat schon Gustav Mahler bemerkt, der seine erste Symphonie geradezu aus einem Kuckucksruf heraus entwickelt.

"Ging heut morgen übers Feld", singt der Bariton zum Thema des ersten Satzes in jener Version, die Mahler in seinen "Liedern eines fahrenden Gesellen" verwendet. In der Symphonie entsteht die Melodie aus dem Kuckucksruf der Einleitung - und dieser Kuckuck singt keine kleine Terz, sondern eine Quart.

Wer nun attacca das Lob der künstlerischen Freiheit anstimmt, muss sich sagen lassen: Die Natur ist auch diesmal wieder stärker. Diese Erkenntnis bescheren uns die ungestörten Spaziergänge, bei denen der echte Kuckuck sein Weibchen schon auch einmal im Feuerwehrton anruft. Es gibt ihn, den Quart-Kuckuck! Wie auch die Terz den Kuckucken so variantenreich geläufig ist wie uns bei der Unterscheidung zwischen Dur und Moll.

Volkslieder-Dur und Mazurken-Moll

Davon gibt uns Beethoven Kunde, dem bei seinen Spaziergängen im Schreiberbachtal die große Terz entgegentönte. So lässt der Meister denn auch am Ende des zweiten Satzes seiner "Sinfonia pastorale" den Kuckuck im Terzett mit Wachtel und Nachtigall das letzte Wort behalten. Er darf die Passage der Vogelrufe in selbstgewisser Bestimmtheit abkadenzieren: mit einer großen Terz.

Kein Mensch hat je moniert, dass diese symphonischen Anverwandlungen nicht mit unserer Liederfahrung übereinstimmen. Bei Beethoven wie bei Mahler bemerkt man den Unterschied kaum. Und kein Zweifel besteht, dass es der Kuckuck ist, der da ruft. Schon die Hersteller von Kuckuckspfeifen machen da ja ihre Unterschiede.

Bei Johann Strauß finden wir "Im Krapfenwaldl" - und ursprünglich übrigens "Im Wald von Pawlowsk" - unseren altvertrauten Kleinterz-Rufer. Während sein Bruder als Unglücksbote im Konradsweiler Wald in Gottfried von Einems Vertonung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" sich eher an Beethoven hält.

Und die Realität? Jüngst rief im Norden Wiens ein Kleinterz-Kuckuck - und es wollte sich keine C-Dur-Harmonie dazu einstellen, so bestimmt hat er das zweigestrichene E betont. Vielleicht war's ein Melancholiker, oder er rief nach einer besonders zart besaiteten Kuckuckin. Jedenfalls klang es romantisch-elegisch nach e-Moll - also weniger nach Beethoven als ein wenig chopinesk.