Originalklang

Philharmonischer Originalklang?

Festwochen. Zur Eröffnung des diesjährigen Musikfestes debütiert Marc Minkowski am Pult der Philharmoniker. Inzwischen veredelt Nikolaus Harnoncourt Opernausfälle.

Ich musiziere gern mit Originalklang-Ensembles", kommentierte Sir Simon Rattle einst seine Programmwahl für das erste philharmonische Abonnementkonzert, das man ihm in Wien anvertraute: Er hatte sich für Gustav Mahlers Neunte Symphonie entschieden, die Bruno Walter 1912 mit den Philharmonikern aus der Taufe gehoben hat. Dafür sei dieses Orchester etwa das, was der Concentus musicus für Bach, das Orchestra of the Age of Enlightenment für Beethoven darstelle.

Damit hat Rattle eine Sicht der Dinge dokumentiert, die heutzutage weltweit als konsentiert gilt. Das genuine Repertoire der großen, romantischen Symphonieorchester hat sich mittlerweile – jener Meinung zufolge – auf Musik der Zeit um 1900 reduziert.

Das ist natürlich eine viel zu enge Perspektive. Orchester vom Format der Wiener Philharmoniker sträuben sich auch konsequent gegen eine Beschneidung ihres Repertoires. Die Besinnung auf den ,,Originalklang" treibt mittlerweile ja auch groteske Stilblüten – selbst in großen Sälen sieht man Ensembles mit sechs ersten Geigen Beethoven-Symphonien exekutieren, was angesichts der dokumentierten Freude klassischer Meister über möglichst große Besetzungen geradezu als Perversion anzusehen ist.

Thielemann und keine Missverständnisse

Dirigenten vom Format eines Christian Thielemann halten sich mit derlei Missverständeleien gar nicht erst auf. Thielemann nahm mit den Philharmonikern sämtliche Beethoven-Symphonien auf, und das einzige Zugeständnis, das er dem Originalklang-Zeitgeist machte, war der Verzicht auf die Verdoppelung der Bläserstimmen in den Tutti- Passagen, wie sie für die Generation Karajan/Böhm/Bernstein noch selbstverständlich war – und irgendwann gewiss auch wieder gepflegt werden wird, um die rechte Balance zur von den Komponisten erträumten, reichen Streicherbesetzung zu finden. Aber das sind Erinnerungen an die Zukunft. Heute, Samstag, und morgen Vormittag kommt es im Konzerthaus anläßlich der Festwocheneröffnung einmal zur Erstbegegnung der Philharmoniker mit einem Originalklang- Apostel der zweiten Generation, Marc Minkowski, der nebst Gluck und Mozart Beethovens ,,Eroica" ins Programm genommen hat – man darf gespannt sein, welche Früchte diese neuerliche Geste der Öffnung tragen wird.

Im Falle Nikolaus Harnoncourts war die Vereinigung wienerischer Spieltradition mit den damals gerade jüngsten Interpretations- erkenntnissen Mitte der Achtzigerjahre ja eine schwere Geburt. Musikfreunde erinnern sich noch der säuerlichen Mienen einiger Musiker angesichts von Schuberts Vierter.

Man hat sich dann im besten Sinne des Wortes zusammengerauft – und Harnoncourt fand später, etwa beim Neujahrskonzert, bei Schuberts großer C-Dur-Symphonie oder auch Franz Schmidts ,,Buch mit sieben Siegeln", ja sogar bei Alban Bergs Violinkonzert, zu einem weich-subtilen Klangstil, den ihm kein Beobachter je zugetraut hätte. Wer da wen beeinflusst hat, bleibe dahingestellt, die Ergebnisse klangen jedenfalls oft frisch, musikantisch spontan. Harnoncourt ist seither zur unangefochtenen Galionsfigur geworden. Einen kuriosen Höhepunkt markierte vor kurzem die Ankündigung einer zyklischen konzertanten Aufführung von Mozarts Da-Ponte- Opern unter seiner Leitung im Theater an der Wien. Und zwar als Ersatz für eine Neuinszenierung von ,,Così fan tutte", der über Nacht der Regisseur abhandengekommen war. Noch vor ein paar Jahren hätte ein solcher Vorfall zu einer mittleren Direktionskrise geführt – heute genügt die Ankündigung dreier Harnoncourt-Konzerte, und niemand findet etwas dran, daß da einfach eine Premiere ersatzlos gestrichen wird . . .

Galionsfigur ersetzt das Theaterspiel

Mit Interesse hat man nun vernommen, daß der dieserart zur singulären Kultfigur gewordene Nikolaus Harnoncourt bei seinem Engagement für die Melker Pfingstkonzerte ab 2014 auch einen Nachfolger für seinen Concentus suchen möchte – ein schier aussichtsloses Unterfangen, möchte man meinen, angesichts seiner bis dato völlig auf die Persönlichkeit des Gründers und künstlerischen Leiters zugeschnittenen Aktivitäten dieses Ensembles.
Einen neuen Mann für einen solchen Klangkörper zu finden, das bräuchte wohl Experimente von mindestens jener Sprengkraft, die man sich für das Debüt Marc Minkowskis heute und morgen erwartet . . .