PIERRE MONTEUX DIE DECCA AUFNAHMEN (24 CDs)

In den nicht nur zum Jahresausklang beliebten Rankings erhält der Name Pierre Monteux in der Kategorie Dirigent in aller Regel keinen Platz unter den ersten zehn. Dass er dennoch einer der bedeutendsten Vertreter seiner Zunft war, lässt sich anhand der neuen Aufnahmen-Sammlung studieren. Ein Beethovenzyklus – passend zum kommenden Jubiläumsjahr – steht gleich am Beginn und erweist sich rasch als einer der besten, die je aufgenommen wurden. Wiener Philharmoniker und London Symphony musizieren beredt, klar differenziert und voll unbändiger Energie. Schon in der Ersten überraschen die prägnant dialogisierenden Passagen zwischen Bläsern und Streichern, der Anfang der Fünften, vielleicht einer der heikelsten Prüfsteine, packt energisch zu und öffnet das Tor für eine ebenso vorwärts stürmende wie plastisch durchgeformte Interpretation. Die Neunte gehört schon dank des von Elisabeth Söderström angeführten Solistenquartetts zu den Aufnahme-Klassikern.

Klassik mit Humor

Und die Achte verrät – nebst (leider nur) zwei hinreißend musizierten Haydn-Symphonien – eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Dirigenten: Humor, verschmitzt, auch hinterlistig, wo Beethoven das suggeriert.
Den unbeirrbaren Klang-Architekten Monteux verraten viele Details in dieser Sammlung, etwa das Grundtempo im ersten Satz von Brahms' Zweiter, das trotz „ma non troppo“ ein Allegro bleibt; was an den Konservatorien dieser Welt gleich im ersten Semester zur Hör-Pflicht werden sollte, denn man lernt, wie man der bukolisch-träumerischen Musik einen Puls sichert, der es möglich macht, sogar die Exposition zu wiederholen, ohne dass die Dinge auch nur eine Sekunde lang an Spannung verlieren . . .
Selbstredend war Monteux im französischen Repertoire von der Romantik bis zum Impressionismus Debussys und Ravels in seinem Element. Berlioz' „Romeo“-Symphonie wird bei ihm auch in den erzählfreudigen Abschnitten nicht langweilig; dazu ist dieser Dirigent zu sehr raffinierter Dramatiker, eine Eigenschaft, die auch seinen zündenden Aufnahmen von Ballettmusiken Tschaikowskys oder – und vor allem – Strawinskys zugute kommt.
Hier durfte Pierre Monteux oft das Ius primae noctis beanspruchen und behielt selbst im Sturm des Uraufführungsskandals von „Sacre du printemps“ so kühlen Kopf, dass er die Wiedergabe der Partitur zu Ende brachte. Die Wiedergabe „seiner“ beiden Strawinsky-Ballette, neben dem „Sacre“ auch „Petruschka“, gehörte bis ins hohe Alter zu den Bravourstücken des Maestros. Was die chthonische Wirkung betrifft, gehört Monteux' „Sacre“ nach wie vor zu den herausragenden Ereignissen der Interpretationsgeschichte – nahezu alle späteren Interpretationen wirken weniger energetisch und in den entscheidenden Momenten auch weniger klanglich raffiniert. Ein Tipp zum Schluss: Die Wiedergabe der „Enigma“-Variationen von Edward Elgar mit London Symphony zählt für mich zu den allerbesten Aufnahmen der Stereo-Ära, von einer Leuchtkraft und einem Elan, die den Hörer auch im Wohnzimmer mit offenem Munde lauschen lassen.




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