Prokofieff entecken

Das ist erst der ganze Prokofieff

Klaviermusik und Lieder. Pianist Vadym Kholodenko und Mezzosopranistin Margarita Gritskova zeigen den russischen Meister der Moderne auch von ganz ungewohnten Seiten.

Sergej Prokofieff gehört unzweifelhaft zu den bedeutendsten Vertretern der musikalischen Moderne. Doch ragt nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs aus der Fülle seines Schaffens ins Bewusstsein der Musikwelt. Einige wenige Werke sind populär geworden und werden viel gespielt. Aber die Auswahl der Stücke, die es ins Repertoire geschafft haben, ist recht einseitig und vermittelt kein universales Bild dieser vielschichtigen Komponistenpersönlichkeit.

Gleich zwei neue CDs sind nun in den Handel gekommen, die hier Abhilfe schaffen können. Sie bieten sozusagen spannend zu absolvierende Hör-Crashkurse in völlig verschiedenen Genres.

"Das ist ja ein wildes Tier!"

Da ist einmal ein Solo-Recital des 1986 geborenen Pianisten Vadym Kholodenko, das ausgehend von der viel gespielten Klaviersonate Nr. 6 in einem Rückblick das Terrain von Prokofieffs Pianistik erobert, über seltsam verrätselte "Dinge an sich" op. 45 und verschmitzte Stilübungen op. 32, die in einen verträumten Walzer münden, um zuletzt den kurzen, ironischen Bagatellen das Feld zu räumen, die Prokofieff noch in seiner Bürgerschreck-Ära "Sarkasmen" taufte.

Das ist ja ein wildes Tier", rief ein Hörer während der Uraufführung des Zweiten Klavierkonzerts, 1913, und brachte damit die Meinung mancher wegen der wilden Dissonanzballungen in dieser Musik empörter Musikfreunde auf den Punkt.

Doch es gibt auch einen anderen Prokofieff, einen der größten Melodiker des 20. Jahrhunderts, den Kholodenko in Momenten des Klavierwerks aufspürt, wo man es gemeinhin nicht für möglich erachtet. Gewiss, nicht alles gelingt auf dieser CD mustergültig, die gefürchteten Quintolen im Scherzo der Sonate op. 82 sind nicht ganz ebenmäßig. Doch die klangliche Differenzierung und artikulatorische Finesse des Spiels hebt kontrapunktische Schichtungen ans Licht, die rasantere Interpreten in der Regel völlig "überspielen".

Märchenerzähler und Lyriker

Chronologisch führen uns Margarita Gritskova und ihre Klavierpartnerin Maria Prinz durch Prokofieffs Liedschaffen. Was in Kholodenkos Klavier-Aufnahmen sozusagen subkutan wirksam ist, wird hier zum Ereignis: Prokofieffs Sinn für Melodie. Zwar finden sich auch unter den Vokalkompositionen Beispiele für den "sarkastischen" Prokofieff, doch der Meister des Musikmärchens "Peter und der Wolf" erzählt auch die Geschichte vom "hässlichen kleinen Entlein" liebevoll in allen Details - Gritskova und Prinz machen daraus ein kleines vokal-pianistisches Kabinettstück.

Doch da sind vor allem auch ausdrucksvolle Gesänge auf expressionistische Gedichte von Balmont und im Gegenzug Vertonungen der glasklaren Lyrik Anna Achmatovas. Sie war damals, 1916, eine der Zukunftshoffnungen im russischen Kulturleben; und Prokofieff suchte Abwechslung von den eruptiv-unbarmherzigen Klängen seiner Arbeit an der Oper "Der Spieler". "Endlich glauben die Menschen nun, dass ich auch lyrische Musik schreiben kann", freute er sich nach der Uraufführung des Achmatova-Zyklus, den Gritskova und Prinz inmitten ihrer Prokofieff-Auswahl leuchtkräftig realisieren.

Der Meister bewegte sich also in längst erobertem Terrain, als er nach seiner "Heimkehr" unversehens in die Mühlen des stalinistischen Kulturterrors geriet: Für den verordneten "sozialistischen Realismus" fand er daher auch höchst eigenwillige, unverwechselbare Töne.

Auch die Musik aus der Sowjet-Ära klingt vor allem einmal - nach Prokofieff . . .