Rückzüge

Tournedos statt Cabaletten: Macht Schluß mit der Musik Warum sich Komponisten und Interpreten hie und da trotz eminenter Erfolge von den internationalen Podien zurückziehen.

„Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen“ – fragt Hölderlin in seiner ,,Hälfte des Lebens", nicht nur eines der schönsten Gedichte deutscher Sprache, sondern beängstigende poetische Vorwegnahme des (oben erwähnten) eigenen Schicksals. Gioacchino Rossini suchte nicht nach Blumen. Eher nach Gewürzkräutern, als seine Lebensmitte erreicht war. Viel kommentiert wurde der Rückzug des erfolgreichsten Opernkomponisten seiner Zeit in die Küche.

Tatsächlich schrieb Rossini 1829 seinen ,,Wilhelm Tell", das Musterbeispiel, an dem sich die folgende Generation französischer Komponisten in Sachen Grand Opéra orientieren sollte. Schluss mit Musik, her mit den Pasteten, lautete danach sein Motto – für weitere knapp vier Jahrzehnte!

Dergleichen gibt es auch – wenn auch vermutlich mit weitaus weniger fröhlichen Konnotationen – bei Interpreten. Was hätte das Publikum, hätten Orchestermusiker gegeben, wäre Carlos Kleiber in den späten Neunzigerjahren noch einmal aufgetreten. Er nahm den Taktstock nach seinem legendären ,,Rosenkavalier" von 1994 nur noch für wenige Konzerte – an weit vom großen Musik-Business abgelegenen Orten – in die Hand.

Welche Leiden hinter solchen Rückzügen stecken mögen, können die ,,Konsumenten" nur imaginieren. Durchaus kühne ästhetische Diskussionen ranken sich um die selbstgewählte innere Emigration von Jean Sibelius, der doch als Symphoniker darstellte, was Rossini ein Jahrhundert zuvor für die Oper war.

Daß seine Musik wegweisend sein sollte, war freilich zu Lebzeiten des Komponisten höchst umstritten. Erst die sogenannten Postmodernen wagten es, die kühnen, weiten Raumkonzepte des Finnen als ernsthafte Denkmuster in Betracht zu ziehen.

Traumgebilde. Für die Vorkämpfer einer europäischen Avantgarde im Gefolge der ,,Wiener Schule" um Arnold Schönberg waren die so ganz anders gearteten, das Formdenken der Klassiker ignorierenden symphonischen Traumgebilde schlichtweg untaugliche Versuche, Gestammel gar – wenn man die wütenden Attacken beachtet, die Berg-Schüler Theodor W. Adorno gegen Sibelius ritt. Adorno galt zumindest im deutschen Sprachraum als sakrosankt. Bis heute schickt sich's nicht, hierzulande Sibelius aufs Programm zu setzen. Vielleicht waren solche Irritationen dafür verantwortlich, daß der Meister jahrelang ,,über einer Achten hockte, als ob es eine Neunte sei", wie Adorno spottete. Sibelius hat seine Achte Symphonie angeblich ins Feuer geworfen – wie Eduard Strauß am Ende seines Lebens das gesamte Notenarchiv seines Vaters und seiner Brüder. Ein Rückzug aus Melancholie? Aus Unvermögen?

RÜCKZÜGE

Gioacchino Rossini schrieb 1829 seine letzte Oper, ,,Wilhelm Tell", und lebte zufrieden bis 1868. Carlos Kleiber dirigierte 1994 zum letzten Mal Oper – und dann nur noch wenige Konzerte, zuletzt 1999 in Las Palmas. Er starb zurückgezogen 2004 in Slowenien. Jean Sibelius vollendete seine letzte Symphonie 1924 – und lebte bis 1957.