Sacre - zum Geburtsetag

Die Musikrevolution war eine szenische – Nijinsky bleibt!

In Paris versuchte man, der Originalchoreographie des »Sacre« durcheine Novität Paroli zu bieten. Das misslang gründlich.

Nijinsky war schuld – so zumindest liest es sich im Rückblick, den Igor Strawinsky selbst verfasste. Die rüde Choreographie des Tanzgenies mit den hüpfenden ,,Lolitas" hätte das Publikum vor den Kopf gestoßen, nicht seine Musik. Die war, so viel stimmt, schon anläßlich der ersten Konzertdarbietung, einige Monate nach dem berüchtigten Skandalabend in der Pariser Avenue Montaigne, ein rauschender Erfolg.

Bis heute gilt ,,Le sacre du printemps" als Erfolgsgarant, eines der wenigen Werke der musikalischen Moderne, das man unbeschadet ans Ende eines Konzertprogramms stellen kann, als wäre es eine Brahms-Symphonie – und niemand verlässt zur Pause schon das Haus. Die Choreographen haben es viel schwerer als die Dirigenten. Sie müssen sich Passendes einfallen lassen, das von der nach wie vor wirkenden Urgewalt der Musik nicht hinweggespült wird. Die seit einigen Jahren wieder rekonstruierte Version der ursprünglichen szenischen Vision lässt uns nachfühlen, daß Vaslav Nijinskis Arbeit tatsächlich mindestens so viel Sprengkraft entwickelte wie die kühne Musik mit ihren unerhörten Schichtungen und rhythmischen Schocks.

Neckisches Gehüpfe. Jüngst beim Salzburger Pfingstfestival und am Geburtstag des Werks selbst am Uraufführungsort, dem Théâtre des Champs-Elysées, dirigierte Valery Gergiev sein Marinski-Orchester und steuerte die Begleitmusik zur von der Truppe seines Hauses getanzten Nijinski-Choreographie bei – ein wenig großzügig und vor allem im Tempo so zügig, daß man verstand, warum Strawinsky befand, Nijinsky hätte viel zu viel Bewegung auf seine Klänge ,,draufgepackt".

Was chthonisches Stampfen sein sollte, wird so zum neckischen Gehüpfe, ,,Hasch mich, ich bin das Frühlingsopfer", statt existenzieller Natur- und Todeserfahrung.
Allein: Wie kraftvoll Nijinskis Werk bis heute wirken könnte, lässt sich auch an einer etwas überhasteten Wiedergabe ablesen. Zumal, wenn man ihr – wie man es im Pariser Haus tat – einen Neuversuch aus unseren Tagen gegenüberstellt.

Sasha Waltz hat den ,,Sacre" mit ihrer Compagnie neu umgesetzt. Und das nimmt sich im Vergleich zur Originalversion doch reichlich blass aus. Gewiss, der Umgang mit Zitaten macht den ersten Teil des Stückes durchaus spannend, da legen sich die runderen Bewegungen von Waltz über die harten, klar definierten Effekte von Nijinsky, da blitzen mittendrin Figuren auf, die Zitate aus späteren Strawinsky- Kreationen wie Balanchines ,,Apollon musagète" sein könnten. Doch können auch die mehr und mehr angereicherte Bewegung auf der Szene, das Über- und Durcheinander der Erzählstränge, die Waltz in postmoderner Beliebigkeit verschachtelt, nicht über die grundsätzliche Dürftigkeit des Bewegungsvokabulars hinwegtäuschen. Wenn dann noch die Musik angehalten wird, um matte Effekte künstlich zu betonen, wird die Sache vollends fragwürdig.

Vielleicht hatte Strawinsky recht. Der Revoluzzer hieß Nijinski . . .

» Es gibt keine sackere Gasse als Strawinskys Sacre du printemps. «

ARNOLD SCHÖNBERG

Die säuberlich kalligraphierte Revolution

Zum 100. Geburtstag von Igor Strawinskys furiosem »Sacre du printemps« erschienen eine prachtvolle Liebhaberausgabe der beiden eigenhändigen Notenmanuskripte nebst gutem Dokumentarband.

Haben Sie auch immer schon an Beethovens ,,Eroica" gedacht, wenn die Rede auf ,,Le sacre du printemps" kommt? Wenn ja, dann haben Sie mir etwas voraus. Ich habe erst mit dem Studium der jüngsten Publikation zu Igor Strawinskys epochemachender Ballettmusik gelernt, daß einige der grellsten Harmonien, die sich in den legendären Akkordrepetitionen der ,,Augures printanières" finden, bereits im Jahr 1804 auf die Hörer eingedroschen haben. Es stimmt schon, Beethoven war nicht zimperlich.

Nicht zimperlicher jedenfalls als Strawinsky – nur mehr als 100 Jahre früher dran. Dem aufscheuchenden Potenzial der 1913 uraufgeführten Ballettmusik tut das keinen Abbruch. Nur die Perspektiven des Hörers verschieben sich, wenn er den Vergleich kennt: Beethoven, erster Satz, Takt 280 und folgende, Strawinsky, Ziffer 13, der Gleichklang ist verblüffend.

Wie das so ist mit wirklich guten Büchern, sie verändern unser Weltbild. Zumindest ein bisschen. Zumindest fassen sie irgendeine Sache anschaulich zusammen. Zum Beispiel den Wissensstand der Musik- und Theaterforschung in Sachen ,,Sacre". Rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Aufregers hat Boosey & Hawkes sich – unterstützt von der Sacher-Stiftung – ein Herz gefasst und dem Denkmal, das dem Verlag in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Ruhm und Ehre, sondern wohl auch einige Tantiemen eingebracht hat, ein Denkmal gesetzt.

Strawinskys Pracht-Handschrift. Da ist einmal der Sammelband mit Aufsätzen zu allen erdenklichen Aspekten des Werks – unter anderem zu den zitierten musikologischen Parallelziehungen. Dann sind da aber noch zwei großformatige, in schwarzen Stoff gebundene Bände, die nichts weniger enthalten als Faksimiledrucke von Strawinskys handschriftlicher Orchesterpartitur und des ebenfalls vom Komponisten verfassten vierhändigen Klavierauszugs.
Das ist zuvörderst eine Augenweide, denn die Handschrift dieses Komponisten übertrifft an kalligraphischer Schönheit und Sauberkeit beinah alles, was die Mitbewerber im Fach Schönschreiben an Preisverdächtigem geleistet haben. Gewiss, da war zur selben Zeit ein Paul Hindemith am Werk, der druckreif geschrieben hat – nur zweckmäßiger, nicht auch noch so ästhetisch. Die notorisch sauberen Handschriften von Richard Strauss wirken ähnlich übersichtlich, geben sich im Schriftbild freilich genialischer, großzügiger, im Vergleich geradezu schlampig.

Die ,,Sacre"-Partitur hat etwas von graphischer Notation, wie sie einige von Strawinskys Erben später pflegten. Die rhythmisch- metrischen Drahtseilakte, die der Komponist seinem Choreographen Nijinsky aufgegeben hat, lassen sich ja tatsächlich in vielen Fällen auch für Leser nachvollziehen, die der Notenschrift unkundig sind – doch wird sich pittoresk der Sinn der Bilder erschließen, zumindest erahnen lassen.

Dann das Begleitbuch, ,,Avatar of Modernity" genannt, also recht frei übersetzt eine Schrift über die ,,Ikone der Moderne", die das ,,Frühlingsopfer" ja tatsächlich darstellt. Es steht als Synonym für den Aufbruch in eine neue Zeit der Musikgeschichtsschre ibung und war von Strawinsky wohl auch so gedacht.

In diesem Sinne ist es aufschlussreich, daß er (bewußt oder unbewußt) eine von Beethovens gröbsten Dissonanzen – die dieser freilich, wenn auch nur zögerlich ,,auflöst" – zitiert, aber unbehauen stehen lässt. Beziehungsweise in Bewegung bringt, durch fortwährende Repetition multipliziert, ohne daß die Harmonie nach Veränderung strebte – wenn man so will, als Avatar des revolutionierten Harmonieverständnisses.

Die Herausgeber, Hermann Danuser und Heidy Zimmermann, haben zusammengetrommelt, was an Forschern über ,,Sacre" nur geforscht hat: Entstehungsgeschichte, optische Umsetzung anläßlich der skandalumwitterten Uraufführung, Nachwirkungen in Tanz- und Kompositionsgeschichte.

Ein ,,Sacre"-Kompendium ist da entstanden, kaum ein anderes Meisterwerk der Musikgeschichte, nicht einmal der ,,Tristan", hat je einen solchen Spiegel vorgehalten bekommen. Da schweift der Blick des Betrachters – um nur ein Beispiel herauszunehmen – in Richtung der damals aktuellen russischen Kunstgeschichte und erkennt, wie bedeutsam für den Komponisten die Begegnung mit der Ästhetik Nicholas Roerichs gewesen ist.

Wer das choreographische Szenarium kennt, das Mikhail Fokine 1910 für die Uraufführung des ,,Feuervogels" entworfen hat, des ersten von Strawinskys Balletten für die Ballets Russes von Serge Diaghilev, der weiß, wie stark der Komponist beim Komponieren von bildhaften Vorstellungen ausging. Sogar der Moment, an dem die goldenen Äpfel der Prinzessinnen von den Bäumen fallen, ist akustisch genau markiert. Wie viel prägender müssen die von Strawinsky selbst als bildhafte Visionen beschriebenen Genieblitze, die zum ,,Sacre" geführt haben, gewesen sein. Roerich, der die Uraufführung ausgestattet hat, malte bereits 1897 einen ,,Weisen", wie er in einem entscheidenden Moment des Balletts erscheint . . .

Keine ,,sackere Gasse"? Noch wichtiger scheint an der Publikation aber das ausführliche Kapitel über die Auswirkungen, die der ,,Sacre" gehabt hat. Immerhin fanden sich einige hoch mögende Kommentatoren, die das zeugende Potenzial dieser Partitur rundweg abstritten. Schönberg soll formuliert haben, es gäbe ,,keine sackere Gasse" als diese. Theodor Adorno stieß, versteht sich, ins gleiche Horn.

Nun weisen die Autoren des ,,Avatar" nach, wo sich überall Spuren der Beschäftigung mit dem Jahrhundert-Coup Strawinskys ausmachen lassen. Schon das lohnt die Lektüre des Jubilläumsbandes.
Der Bildteil illustriert zuletzt die Stadien der Entstehung der Komposition von Skizzenblättern bis zur ausgearbeiteten Partitur, ,,Sacre"-Choreographien von 1913 bis heute, Zeugen der Uraufführung in Form von Bleistiftskizzen. Überdies vermittelt er Impressionen der von Strawinsky gegen einen Betrag von 6000 Dollar (etwa 85.000 Euro heutiger Kaufkraft) sanktionierten Verwendung seiner Musik als Soundtrack in der Dinosaurierszene von Walt Disneys ,,Fantasia".

Die Ausbeute für Kenner und Liebhaber ist also gewaltig – falls uns ,,Le sacre du printemps" tatsächlich in eine Sackgasse verführt haben sollte, ist deren Ende noch nicht abzusehen.

SACRE-DATEN

1910 hat Strawinsky die Vision eines heidnischen Frühlingsopfers im alten Russland.1911 hat ,,Petruschka", nach dem ,,Feuervogel" die zweite Komposition für die Ballets Russes, Premiere.
1912 berichtet Strawinsky im August in einem Brief an Maurice Ravel, die Komposition so gut wie abgeschlossen zu haben.

1913 wird die Uraufführung von ,,Le sacre du printemps" am 29. Mai im Theatre des Champs-Elysées zum Riesenskandal. Nur der Geistesgegenwart des jungen Dirigenten Pierre Monteux ist es zu danken, daß die Aufführung ohne Unterbrechung zu Ende gehen kann.

1922 geht die Partitur – mit dem Copyright-Datum 1921 – in Druck. Ernest Ansermet dirigiert die deutsche Erstaufführung in Berlin, Leopold Stokowsky die amerikanische Premiere in Philadelphia.

Hermann Danuser, Heidy Zimmermann (Hrsg.): ,,Avatar of Modernity – The Rite of Spring Reconsidered", Faksimile-Drucke von Partitur und Klavierauszug, Boosey & Hawkes 2013. *