Scala-Eröffnung

Auf den Trümmern der Opernregie Mailänder Scala. Die erste Spielzeit des neuen Intendanten Dominique Meyer sollte mit "Lucia di Lammermoor" beginnen. Daraus wurde ein Arienabend - aber ein besonderer.

Es war ein multimediales Spektakel, mit dem sich Mailands Teatro alla Scala in der Musikwelt zurückgemeldet hat: Wer da gemeint hatte, die wichtigste Bühne im Mutterland des Musiktheaters würde sich inmitten des Corona-Pandämoniums damit begnügen, einige prominente Sänger Arien singen zu lassen, wurde eines Besseren belehrt.

Davide Livermores hatte das Stardefilee zum postmodernen Gesamtkunstwerk gestaltet. Eine Art postmoderne Neudefinition eines Pasticcios.

In Zeiten wie diesen, in denen fortschrittliche Regisseure die Stücke zertrümmern, die sie zu inszenieren vorgeben, nahm sich diese aus der Not geborene Scala-Inaugurazione als eine Art optisch-akustische Summe diesbezüglicher Zeitgeistigkeiten aus. Die politischen Belehrungen, die Schauspieler zwischendurch vortrugen, hätte man gern entbehrt.

Allerdings hatte bis dato ausgerechnet am 7. Dezember in Mailand, dem traditionsgemäß teuersten Opernabend der Saison mit seinem Juwelengepränge, noch kaum jemand explizit darauf hingewiesen, dass Oper nicht nur für die Reichen und Schönen da ist. Auf der Bühne leiden ja oft genug auch die Armen und Kranken, versicherten uns die Drehbuchschreiber.

Das ist nicht ganz falsch. Und außerdem bekam man ja gleich auch noch den ultimativen Kommentar zum herrschenden Regie-Unwesen mitgeliefert: Statt ein Werk zu dekomponieren, komponierte man aus Fragmenten ein neues.

Die Frage, warum König Philipp und Prinzessin Eboli nicht im Escorial leiden, sondern in der Transsibirischen Eisenbahn, die sich bei einer Neuinszenierung von Verdis "Don Carlos" zweifellos gestellt hätte, kam in diesem zusammenhanglosen Zusammenhang gar nicht erst auf: Einsamkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, aber auch die Entschlusskraft, sich aus solcher Malaise am eigenen Schopf herauszuziehen - was Verdi komponierte, bleibt wahr, sobald eine Sängerin wie Elina Garanca es verkündet.

Armani in der "Transsibirischen"

Selbst wenn man sie in ein rosa Kleid steckt, das weniger ihr als dem Farbton der Tischlampe im Speisewagen angemessen scheint. Immerhin haben Designer, die ihre Kreationen nahe der Scala in der Via Montenapoleone feilbieten, die Künstler ausstaffiert.

Wie das Inszenierungsrepertoire eines Opernhauses im wirklichen Musikleben balancierte diese Show optisch zwischen Kitsch und großer Kunst. Letztere in Form musikalischer Glanzleistungen von Interpreten wie Benjamin Bernheim, Piotr Beczala, Carlos Alvarez oder Ludovic Tezier in einmal stimmigem, dann wieder völlig verquerem Ambiente, immer aber voll echter Emotion. Hatte der Zuschauer einmal genug gestaunt, konnte er angesichts des konsequenten ästhetischen Verwirrspiels, das hier getrieben wurde, ein Zitat aus Wagners "Meistersingern" ins Gegenteil verkehren: "Konnt ein Unsinn sinniger sein?"

Apropos: Andreas Schager und Camilla Nylund malten den Liebesfrühling des Wälsungenpaares zu den Klängen des ersten "Walküren"-Finales mit hinreißend aufblühenden Stimmfarben, Lisette Oropesa und Juan Diego Florez konterten mit perfekt modellierten Belcanto-Kantilenen. Stimmt, dachte man, die beiden wären an diesem Abend, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, in "Lucia di Lammermoor" auf der Bühne der Scala gestanden.

Neo-Intendant Dominique Meyer konnte angelegentlich auch daran erinnern, dass er zum Ausklang seiner Wiener Ära eigentlich einen neuen "Maskenball" geplant hätte: George Petean und Eleonora Buratto gestalteten die Konfrontation Amelias mit ihrem betrogenen Ehemann bewegend. Anders als im Ballett, das mit effektvollen Auftritten eingebunden war - von denen Roberto Bolles Ringen mit einer Laserstrahl-Skulptur das beeindruckendste Bild bot -, siegt in der Oper ja doch stets die Musik, wenn die rechten Interpreten zur Verfügung stehen.

Sie waren (beinahe vollzählig) gekommen, um diesen außergewöhnlichen Abend mitzugestalten. Selbst Placido Domingo gab sich mit der Arie des Gerard aus Giordanos "Andre Chenier" noch einmal als jugendlicher Revoluzzer, worauf ihm Sonya Yoncheva tief empfunden antwortete. Marianne Crebassas Carmen, Marina Rebekkas Butterfly beeindruckten nicht minder.

Roberto Alagna sang Cavaradossis Sternenarie einmal nicht auf, sondern im Angesicht der Engelsburg. Und mit Rossinis "Wilhelm Tell"-Finale ging alles geradezu visionär zu Ende - endlich schien da auch Riccardo Chaillys kapellmeisterisches Dauerlegato wirklich am Platz. Ein ganz normaler Arienabend war das also wirklich nicht. Ob man ihn mochte oder nicht: Man wird sich seiner erinnern.