Sonnwend', musikalisch

So klingt die Sonnenwende

Ab heute werden die Tage wieder kürzer. Aber zumindest musikalisch können wir das Licht festhalten. Ein Streifzug durch erhellende Szenen der Musikgeschichte, von Haydn bis Schwertsik.

Sonnenaufgang, Sonnenuntergang - sie lassen sich präzis vorhersagen und bergen doch das größte Geheimnis. "Und morgen wird die Sonne wieder scheinen", sagt das Gedicht. Eine Binsenweisheit? Dass dem einmal nicht so sein könnte, ist vielleicht eine der Urängste der Menschheit. Sonnwendfeiern, Zelebrationen des längsten und des kürzesten Tages im Jahr, gehören daher vermutlich auch zu den ältesten aller Riten. Die Wiederkehr der Sonne zu feiern, ihr zu opfern, galt von jeher als heilige Pflicht. Denn, wie es im "Faust" nachzulesen ist: "Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke."

Die Menschheit fühlte sich nicht minder gestärkt. So ließ sie die Künste das ihrige tun. Musik durfte dabei nicht fehlen. Nicht nur weil in der Kirche (nach Paul Gerhardt) das Lob der "güldnen Sonne" gesungen werden musste, die ja immerhin dafür sorgt, dass unser Auge schauet, "was Gott gebauet". In Goethes "Prolog im Himmel" erfahren wir schließlich auch, dass uns die Sonne in Wirklichkeit ja nicht einfach "scheint", wie wir das prosaisch nennen. Sie "tönt nach alter Weise". Sie macht also Musik. Und wie klingt diese Musik? Wie "tönt" die Sonne? Diese Frage zu beantworten, "das wär' so wiederum ein Auftrag für den Bruder Bonafides, hätte der Patriarch in Lessings "Nathan" gesagt, wie immer, wenn es darum geht, das Unmögliche möglich zu machen.

Ein kleiner Streifzug durch die Sonnenanbetungen in der Musikgeschichte führt uns zunächst, solange wir uns nicht mit "O sole mio" in der Titelabfrage begnügen wollen, gehörig in die Irre. Gibt es da nicht die "Sonnenquartette" von Joseph Haydn? Die haben allerdings mit der Sonne gar nichts zu tun - das Faktum ausgenommen, dass der Amsterdamer Verleger eine Sonne aufs Titelblatt dieser Sammlung von sechs Streichquartetten gedruckt hat, die 1772 als Opus 20 komponiert wurden.

Erst artig, dann klassisch. Die Sonne ging damals höchstens insofern auf, als Haydn, der große Kammermusiker, in diesem Augenblick wirklich "da" war, ganz er selbst, selbst dort, wo er in den Finalsätzen noch artige, scheinbar spätbarocke Fugati geschrieben hatte.

Die Morgendämmerung hatte der Vater der Wiener Klassik ja nebst andern Naturbildern schon im Zyklus seiner frühen "Tageszeiten"-Symphonien beschworen. Aber da bediente er sich noch einer quasi barocken musikalischen Bildersprache, samt deren für uns heute allzu dezent wirkenden klanglichen Allegorien. Für diese feinen klingenden Zeichen gibt es Vorbilder in Hülle und Fülle. Man denke nur an das wiederholte Aufblitzen des ersten Tageslichts aus düster unbestimmten Harmonien in der Einleitung zu Georg Philippe Telemanns "Tageszeiten"-Kantate. Oder an Dittersdorfs illustrative Klangspielereien in seinen Symphonien über die Metamorphosen des Ovid.

In diesem Sinne hat auch eines der spätesten Streichquartette Joseph Haydns (B-Dur, op. 76/4) seinen Kosenamen erhalten: Da hörten die Zeitgenossen am Beginn nämlich die Sonne aus dem Nebel aufsteigen. Diese bildhafte Assoziation zu einer Violinmelodie sichert dem Stück im angelsächsischen Raum bis heute den Titel "Sunrise". Just zu jener Zeit komponierte Haydn aber dann tatsächlich und ganz bewusst den Sonnenaufgang, den allerersten in der Ideengeschichte der Menschheit: "Und Gott sprach, es werde Licht", flüstert der Chor am Beginn des Oratoriums "Die Schöpfung". "Und es ward" - der strahlendste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte.

Das ist der simpelste Effekt, der sich denken lässt, gewiss. Nur: Die Idee muss einer einmal haben. Der Eintritt dieses Lichts in die europäische Kultur hat seither nie seine überwältigende Wirkung verfehlt, klingt auch für uns Heutige noch wie das tönende Sinnbild der Erfüllung ältester Ur-Sehnsüchte, Sinnbild auch eines "Enlightenment", das für alle gelten sollte. So haben es wohl Haydns Zeitgenossen dechiffriert. Hatten doch die Sonne in der Kunst bis dahin die Könige für sich gepachtet. Ludwig XIV. (wer sonst?) verkörperte sie höchstselbst 1653 als Tänzer im "Ballet de la nuit" - ein berühmter Stich in der Pariser Bibliotheque Nationale hat uns die Szene erhalten.

Die Sonne als Symbol der Erleuchtung wird im aufklärerischen Gegenzug in Mozarts "Zauberflöte" immer wieder beschworen. Das bleibt in dem mit freimaurerischer Symbolik vollgestopften Stück meist nahezu unbemerkt, obwohl es an zentralen Stellen des Geschehens geschieht - wir erleben doch immerhin den Untergang der "Königin der Nacht".

Schikaneders Vision. Der Priesterchor verkündet die Gewissheit: "Die düstre Nacht verscheucht der Glanz der Sonne", die drei Knaben tun es ihnen gleich und versichern: "Bald prangt, den Morgen zu verkünden, / Die Sonn auf goldner Bahn, / Bald soll der finstre Irrwahn schwinden". Und Papageno ist sich im Moment des Glücks sicher, "dass ich bis zur Sonne fliegen sollte, wenn ich Flügeln hätte."

Vor allem aber: Wenn sich das Schicksal der Prüflinge erfüllt hat und sie in den Tempel einziehen, dann heißt es in Emanuel Schikaneders Regieanweisung ausdrücklich: "Sogleich verwandelt sich das ganze Theater in eine Sonne." Wie sollten das unsere ach so klugen Regisseure in die Tat umsetzen - sie scheitern an diesem Stück ohnehin allesamt viel früher . . .

Der ideelle Anspruch an die künstlerische Sonnenanbetung ist also seit der Zeit der Wiener Klassik enorm. Er kam sozusagen auf natürliche Weise zur Deckung mit den alten katholischen Beschwörungen des Lichts, wie wir sie in den gewaltigen Sprachbildern des Franz von Assisi im "Sonnengesang" finden.

Der in allen romanischen Sprachen männliche "Bruder" wird ekstatisch gefeiert - und bis heute zählt diese Poesie zu den großen Herausforderungen, der sich nicht viele Komponisten stellen wollen. Der Wiener Kurt Schwertsik war einer der wenigen, die es gewagt haben. Er hat mit seiner Vertonung gleich eine wunderbare Hymne der Postmoderne geschaffen.

Paul Hindemith, der Unbekannte unter den großen Namen der Moderne, hat den "Sonnengesang" auf seine Weise gleich zweimal zu großen Orchester-Tableaux verarbeitet, einmal im Finale seines Franziskus-Balletts "Nobilissima visione" (dessen sich heutzutage nur Riccardo Muti des Öfteren annimmt - das dafür mit immensem Erfolg). Das andere Mal im Finale der Johannes-Kepler-Oper "Die Harmonie der Welt", in der - es war zuletzt in Linz zu sehen - zuletzt Kaiser, Honoratioren und Wissenschaftler als Gestirne kreisten. In der gleichnamigen Symphonie ist er als überwältigender E-Dur-Triumphgesang zu hören, den der große Jewgeni Mrawinsky einst so vollendet zum Klingen zu bringen wusste, dass sich seither kein Dirigent mehr an diese himmelstürmende Musik gewagt hat.

Wer die Nöte der unerlösten Menschheit auf die Bühne bringen wollte, begegnete freilich schon im Biedermeier solch idealistisch-ethischen Höhenflügen mit Misstrauen. Vielmehr als idyllische Postkartenstimmung - denken wir an Edvard Griegs wunschkonzertzersauste "Morgenstimmung" aus dem "Peer Gynt" - war vom musikalischen Sonnenschein meist nicht zu erhoffen.

Das Leben in der Finsternis der Realität schürte ohnehin Misstrauen gegen hehre Bilder: "Oh, diese Sonne", singt Max in Webers "Freischütz": "Furchtbar steigt sie mir empor!"

Tag und Nacht bei Wagner. Richard Wagner, der die herrlichsten Sonnenaufgänge (in der "Götterdämmerung" gleich zweimal!) komponiert hat, schenkt im "Siegfried" der wachgeküssten Brünnhilde geigen- und harfenumleuchtet ein hymnisches "Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!"

In seiner nächsten Operndichtung singt er dann das hohe Lied der Nacht, die Geborgenheit bietet gegen Lüge und Verrat des Tages: "O, diese Sonne", singt auch Tristan - und bietet Isolde die Flucht ins "Wunderreich der Nacht", in dem "der Sonne Licht nicht scheint". Was das grelle Licht uns zeigt, ist nicht unbedingt das, was man im Innersten "weiß".

Dabei hatte der Dichter-Komponist in seinen theoretischen Schriften die Sonnenanbetung noch "die gemeinschaftliche Grundlage der Religion aller Völker" genannt.

Schon erschien Friedrich Nietzsche auf der Walstatt. Nach anfänglicher Wagner-Begeisterung predigte er die Heraufkunft des Übermenschen und ließ seinen Zarathustra gegen alle dekadenten "nächtlichen" Heimlichkeiten die Kraft des Lichts besingen: "Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!"

Die damit Beschienenen beschworen nun wieder den Glanz der Sonne. Richard Strauss gelang mit dem Auftakt zu seiner "Zarathustra"-Tondichtung der von Film und Werbefernsehen schamlos missbrauchte, stärkste aller Sonnenaufgänge seit Haydn. Ausführlicher versuchte er sich in der ebenfalls von Nietzsche inspirierten "Alpensymphonie" dann am selben Sujet - nicht minder virtuos, aber nicht mehr so überwältigend. Später im Leben fand er dann in seiner "Daphne" noch den rechten euphorischen Ton, wenn Gott Apollo von der Fahrt mit dem Sonnenwagen erzählt.

Schönberg und Ravel. Nietzsches "Zarathustra" inspirierte auch noch den Engländer Frederick Delius, Texte aus dem Chef d'Oeuvre des Dichter-Philosophen in seiner (deutschsprachigen) "Messe des Lebens" zu vertonen. Sie führt in ebenso gleißendes musikalisches Licht wie der Sieg einer chthonischen Naturreligion über das Christentum im Ausklang von Karol Szymanowskis enigmatischem "König Roger" und der ebenso neuheidnische Final-Sonnengesang in Arnold Schönbergs "Gurreliedern". Das funkelt, strahlt und irisiert dank raffinierter Orchestertechnik wie auf den Gemälden der französischen Impressionisten, die das zauberische Sonnenlicht zu allen Tageszeiten einzufangen suchten.

Maurice Ravel hat das ganz unphilosophisch-pittoreske Gegenstück zu den Bildern seiner genialen Malerkollegen geliefert, wenn er mittels Harfen-, Klarinetten-, Celesta- und Flötenarpeggien über seinen Ballett-Helden Daphnis und Chloe den Tag anbrechen lässt - und damit einen der schönsten Sonnenaufgänge schuf, die je mit musikalischen Mitteln gemalt wurden.