Wiener Klangstil?

Bald krankt die ganze Musikgeschichte am Jetlag

Wer kann heute noch die Wiener von den St. Petersburger Philharmonikern unterscheiden? Mozart und Mahler – sie klingen überall gleich.

Deutscher Klavierstil?, fragte mancher Leser im Gefolge der jüngst an dieser Stelle gemachten Anmerkungen nach dem Konzert Menahem Presslers. Ja, der große alte Mann, der ein halbes Jahrhundert lang als Pianist des Beaux Arts Trios Interpretationsgeschichte geschrieben hatte, brachte Verschüttetes in Erinnerung. Differenzierungen, wie wir sie treffen können, wenn wir Tondokumenten von Meistern wie Wilhelm Kempff und, sagen wir, Vladimir Horowitz lauschen.

Selbstverständlich bieten beide bedeutende Interpretationen derselben Werke. Aber sie sind stilistisch klar unterscheidbar. Der Zugang zur musikalischen Textur ist anders, aber auch der zum Klavierspiel als solchem: Was in den Noten aussieht wie ein und derselbe Pianissimo-Akkord – es kann so völlig anders klingen und beeinflusst in seiner Klanglichkeit wiederum alles Folgende.

Wer historische Aufnahmen studiert, erkennt rasch, daß das keine Wahnvorstellungen sind, daß man die Unterschiede hören kann. Wie reich war die Musikwelt, als man den Klang von Orchestern auseinanderhalten und die Namen von Dirigenten als Bürgen benennen konnte: Wien, Leningrad, Berlin, Mailand, Prag, Chicago – Böhm, Mrawinsky, Karajan, de Sabata, Ancerl oder Kubelik, Reiner oder sogar noch Solti. Wie arm ist sie geworden, seit ein weltumspannendes Geschmacksdiktat fruchtbare Differenzen zu nivellieren begann.

Als jüngst die Nachfolgefrage bezüglich des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker gestellt wurde, war zu bemerken, daß heutige Musikfreunde stilkritischen Anmerkungen für unzeitgemäßen Chauvinismus halten und gar nicht bemerken, wenn ein Weltklasseorchester seinen Klangcharakter völlig einebnet.

Das globalisierte Dirigentenkarussell unserer Ära definiert via CD und auf Tourneen mittels des immer gleichen Mahler- Schostakowitsch-, Strawinsky-, Berlioz- und Bartók-Repertoires einen technisch perfektionierten Allerweltston, der in seiner Unverbindlichkeit allseits verbindlich geworden ist – wie für das ältere Repertoire die ebenso uniformierte Originalklangästhetik.

Wenn nun Berlin daran denkt, Gustavo Dudamel zu berufen, wenn die Bayern einen Valery Gergiev engagieren und allen Ernstes glauben, damit ein extrem von der Führungspersönlichkeit abhängiges Ensemble wie die Münchner Philharmoniker im internationalen Konzert positionieren zu können, spricht das Bände. Bald wird man ein Universalorchester bilden können, das blind überall dasselbe aufspielen kann. Ununterscheidbar.

Komme mir keiner mit Wien! Auch unsere Philharmoniker finden kaum Streichernachwuch der ,,Wiener Schule". Es gibt allerdings ein Institut für ,,Wiener Klangstil". Fragt sich nur, worüber dort noch geredet werden kann.