Yo Yo Mas Bach-Marathon

Zwischentöne Die Einsamkeit des Cellisten beim Bach-Spiel

Ein einzelner Musiker in einem antiken Theater zu Füßen der Akropolis baut Brücken zwischen den Kulturen.

Eines der prominentesten Streaming-Projekte dieser Tage war gewiss der gestrige Konzertmarathon des Cellisten Yo-Yo Ma. Er kündigte für den Sonntagnachmittag in Boston eine Aufführung sämtlicher Bach-Solo-Suiten an und widmete diese Aktion ausdrücklich den vielen Opfern, die die Coronakrise mittlerweile gefordert hat.

Alle die den Livestream versäumt haben, können sich mit einer Doppel-DVD-Edition trösten, die soeben in den Handel gekommen ist. Sie dokumentiert den Höhepunkt der Bach-Rundreise, die den Musiker vorige Saison um die halbe Welt geführt hat.

Nun ist eine solche zweieinhalb Stunden währende Gesamtaufführung der sechs Bach-Suiten ohnehin eine geistige Spitzenleistung sondergleichen - und fordert vom Publikum, wenn schon nicht Gleiches, so zumindest geduldige Hingabe, was in unserem Äon schon viel verlangt ist.

Findet dieses Ereignis nun vor einem in die Zigtausende gehenden Publikum an einem der geschichtsträchtigsten Orte Europas statt, dann kommt zur musikalischen Sammlung noch eine historisch-assoziative. Das macht das nun per Video verfügbare Dokument von Yo-Yo Mas Konzert im antiken Theater Herodes Atticus noch außergewöhnlicher.

Sechs Werke für ein unbegleitetes Soloinstrument hat Bach hier gesammelt. Eine für seine Zeit nicht vollkommen unbekannte, aber doch höchst ungewöhnliche Konzentration auf das Phänomen, das wir Melodie nennen. Der unbegleitete Gesang, die musikalische Linie ohne stützende Harmonie - in einem offenen Theaterraum am Fuße der Akropolis. Das könnte beziehungsvoller nicht sein. Wer gern die Verwurzelung unserer Kultur in jener der Antike beschwört, der kommt über Bachs einsam schwebenden Melodien, die offenbar ein Riesenpublikum in Bann zu schlagen vermögen wie einst eine Aischylos-Tragödie, ins Sinnieren.

Wir wissen nicht, können nicht einmal ahnen, was die alten Griechen unter Musik verstanden. Wir haben in Wahrheit, obwohl uns die Texte überliefert sind, nicht die leiseste Idee, was damals Theater bedeutete, was seelische Erschütterung durch das Schicksal eines Oedipus, wie der Singsang der Mimen durch ihre Masken getönt hat. Viel näher sind wir dran am Barock, das Bach umgeben hat - und dem ein einzelner Cellospieler so fremd erscheinen musste wie unsereinem die Anmutung einer Tragödie bei Tageslicht vor einer Ansammlung von Menschen, die ahnten, nein wussten, dass ihre Götter unter ihnen waren.

Können wir immerhin etwas ahnen? Solange wir Bach hören?