Die ewig "neue" Musik

Neue Musik?
Das ist die, die keiner hören will. Oder die keiner versteht. Aber die gab es nicht erst im Jahr 1913.

Vielleicht markierte das »Watschenkonzert« im Musikverein wirklich einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen schöpferischen Kräften und ihrem Publikum: Bis dahin revoltierte man gegen Unerhörtes. Dann blieb man einfach fort.

Aber ja, 1913 war ein markantes Datum. Wir könnten behaupten, daß damals die endgültige Trennung von schöpferischem Geist und Publikum begonnen hat. In Paris revoltierte man gegen Strawinsky – oder jedenfalls gegen Nijinsky, der zu dessen ,,Sacre du printemps" das Urbild des Modern Dance geformt hatte. Und in Wien ohrfeigten einander Herren im Musikvereinssaal, weil man die Klänge von Alban Bergs Liedern nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg nicht ertragen konnte.

Aber die Revolte anläßlich dieses Konzerts war nur die Spitze des Eisbergs. Erstmals musste ein Konzert wegen heftiger Publikumsproteste abgebrochen und der Saal geräumt werden. Das stimmt. Aber empfindlich gestört hatten die Zuhörer Aufführungen unter der Leitung des Avantgarde-Apostels Arnold Schönberg, der auch als Dirigent der Berg-Lieder fungierte, bereits erheblich früher. Daß man nicht mochte, was die ,,Neutöner" da als Musik verkauften, wurde spätestens aktenkundig, als man Schönbergs Erstes Streichquartett spielte – immerhin saß da ein Ensemble aus Wiener Philharmonikern auf dem Podium, dem man sonst – wenn es Beethoven oder Brahms spielte – hingebungsvoll lauschte.

Aber dieses angeblich in d-Moll stehende, voller unerhörter Akkordverbindungen steckende Quartett, das ging zu weit. Gustav Mahler, Operndirektor in jenen Jahren und einer, dessen Werke es ebenfalls schwer hatten, sich beim traditionsverbundenen Publikum durchzusetzen, wurde Zeuge der Pfiffe und Buhrufe – und von einem der Randalierer, den er zur Rede stellte, verbal attackiert. Wand aus Missfallenslauten. ,,Ich zische auch bei Ihren Symphonien", lautete die legendäre ,,Verteidigung" des Störenfrieds. Er war vielleicht auch zugegen, als man wenig später, 1908, das Zweite Streichquartett Schönbergs aus der Taufe hob – und die Musiker gegen eine Wand aus Missfallenslauten anspielen mussten.

Erst in den allerletzten Takten legte sich der Sturm. Aber immerhin, man konnte zu Ende spielen.
Damit war 1913 Schluß.
Insofern ist die Rede vom ,,Schicksalsjahr" nicht ganz falsch.

Die Beziehungskrise eskalierte. Es sollte nicht lange dauern, daß Künstler sich wünschten, das Publikum möge doch zumindest seine Ablehnung dokumentieren. Längst halten wir in einem Zustand des völligen Desinteresses. Neue Stücke werden heute in aller Regel gleichzeitig zum ersten und zum letzten Mal gespielt.

Zynisch betrachtet, können wir das Stichdatum für die Heraufkunft der Moderne ohnehin jenseits des 20. Jahrhunderts verorten: vielleicht nicht so provokant weit weg wie etwa im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, als ein Fürst namens Gesualdo schon Harmonien erträumt hat, die kühner klingen als alles, was die heutige Kunstmusik hervorbringt – heuer ist übrigens des Meisters 400. Todestag zu gedenken.

Aber im Frühling des Jahres 1860, in Wien, in einem Konzert der Kapelle von Joseph Strauß? Damals erklang zum ersten Mal jene Musik, die das harmonische Denken der Moderne beeinflusst hat wie keine andere: das Vorspiel zu Wagners ,,Tristan und Isolde". Die Hofoper hatte trotz intensiver Probenarbeit mit dem Stück nichts anfangen können.

Joseph Strauß konnte . . .