Ewig "neue" Musik

„Katzenmusik" und ihre historische Sendung

Entgrenzung. Im Musikverein erklingt Schönbergs Zweites Streichquartett, Avantgardemusik, die persönliche Katastrophen wie Richard Gerstls Selbstmord spiegelt, aber auch Kandinskys Aufbruch ins Abstrakte befruchtete.

Es war das Jahr der Skandale – 1913 erschütterten Uraufführungen von Werken der Komponisten Arnold Schönberg und Igor Strawinsky die Musikwelt. Man wird die Jahrestage zu feiern haben. Doch waren bereits die Vorbeben zu den epochemachenden

Avantgarde-Auseinandersetzungen intensiv. Und ihre Ausläufer sind bis heute zu spüren.
Wenn etwa Arnold Schönbergs Opus 10, das Zweite Streichquartett, kommenden Donnerstag im Wiener Musikverein aufgeführt wird, dann muss eine

solche Aufführung nach wie vor als Ausnahmeereignis gelten. Live- Wiedergaben dieser Musik haben nach wie vor Seltenheitswert. Der Aufruhr, den die erste Präsentation dieses Stückes verursacht hat, wirkt in gewisser Weise noch immer nach.

Es ist der 21. Dezember 1908, ein paar Stockwerke höher als das Steude-Quartett diesmal musizieren wird, im Brahmssaal des Musikvereins, spielt das – ebenfalls unter der Führung eines philharmonischen Konzertmeisters stehende – Rosé-Quartett und kann kaum zu Ende kommen mit der Novität. Während der gesamten Aufführung revoltieren die Zuhörer, lachen, schreien, pfeifen.

Das ist in dieser Heftigkeit und Konsequenz neu. Bis dato haben sich die Proteste auf vereinzelte Misstöne vonseiten des Auditoriums beschränkt. Erst während des Applauses gingen die Gegner dann gern zum Angriff über.

Randale während der Musik

Schönberg kennt das alles. Selbst ein Gustav Mahler blieb, als er sich nach der Premiere von Schönbergs Erstem Quartett für die Novität einsetzte, nicht verschont: ,,Sie haben nicht zu zischen", herrschte Mahler damals einen Störenfried an. ,,Ich zische auch bei Ihren Symphonien", gab der postwendend zurück.

Beim Quartett Nummer II gibt es nun Randale während der gesamten Aufführung. 1913 werden die Pfiffe und Pfui-Rufe dann zu Schlägereien führen, die den Abbruch der Wiedergabe von Alban Bergs ,,Altenbergliedern" und die Räumung des Musikvereinssaals erzwingen werden.

Strawinsky wird diese Blamage wenige Wochen später in Paris erspart bleiben: Auch die Uraufführung von ,,Le sacre du printemps" wird massiv gestört werden, doch der junge Pierre Monteux wird die heikle Partitur bis zum Schluss eisern durchtaktieren.

Auch die Musiker des Rosé-Quartetts trotzen während Schönbergs Zweitem Quartett allen Angriffen, die immer heftiger werden, sobald in den beiden abschließenden Sätzen – singulär in der Geschichte der Kammermusik – eine Singstimme zu den Instrumenten hinzutritt. Marie Gutheil-Schoder, Star der Wiener Oper jener Jahre, singt, was 2013 Ildikó Raimondi anvertraut wird: Vertonungen von Gedichten Stefan Georges: ,,ich fühle luft von anderem planeten . . ."

Diese Luft will ein Großteil der damaligen Musikfreunde nicht einatmen. Vor allem deshalb nicht, weil der Komponist hier erstmals die Gesetze der Tonalität, die er nach Meinung seiner Zeitgenossen ohnehin schon seit Jahren mit Füßen getreten hat, völlig außer Kraft setzt.

In fis-Moll hat das Stück begonnen, danach, wie von dem Bilderstürmer Schönberg nicht anders zu erwarten, die eigenartigsten harmonischen Kapriolen geschlagen. Im zweiten Satz tönt mit einem Mal der ,,liebe Augustin" herein. ,,Alles ist hin." Und flugs verflüchtigt sich die letzte Notbrücke nach Dur oder Moll: ,,luft von anderem planeten", Atonalität!

„Eine veritable Katzenmusik", wird Kritiker Max Kalbeck urteilen. Die Publikumsproteste verstummen am Uraufführungsabend erst, als die Gutheil-Schoder zu Ende gesungen hat: Schönbergs Musik wendet sich in den Schlusstakten ein letztes Mal zurück in vertraute Bahnen und mündet in einen Fis-Dur-Akkord. ,,Alter Duft aus Märchenzeit" wird es 1912 dann im ,,Pierrot Lunaire" heißen.

Alles ist schon hin. In durchpsychologisierten Zeiten wie den unsern mag man ja nicht an Zufälle glauben: Die künstlerische Destruktion könnte tatsächlich Abbild privater Katastrophen sein.

O du lieber Augustin, alles ist hin

Wie ein Menetekel zerbricht die Tonalität, während Schönbergs Ehe in Scherben zu gehen droht. Frau Mathilde ist mit einem Freund, dem Maler Richard Gerstl, liiert und hat die Familie verlassen. Schönbergs Schüler Anton Webern spürt das Liebespaar auf und überredet Mathilde: ,,Der Kinder wegen" kehrt sie zu Schönberg zurück.

Der komponiert gerade sein Quartett und webt den lieben Augustin zynisch mitten hinein in seine ätherischen Klangfantasien. Buchstäblich alles ist hin. Gerstl begeht Selbstmord. Es ist nicht nur die Beziehung zu Mathilde in Brüche gegangen. Schönberg selbst war dem Malerfreund beinah väterliches Vorbild gewesen. Jedenfalls wird der Komponist es später so darstellen: Dank seiner kritischen Zuwendung hätte Gerstl erst erkannt, ,,wie man malen muss".

Damit nicht genug der musikalisch-bildnerischen Beziehungsknäuel. Wassily Kandinsky hört das umstrittene Streichquartett mit dem Sopransolo in München – und verfällt in einen Malrausch. Noch in der Nacht entwirft er eines der frühesten Hauptwerke der abstrakten Kunst: ,,Konzert", auch ,,Impression III" genannt. Mit Schönberg, der an Gerstls Seite sein bildnerisches Talent entdeckt und zur Entfaltung gebracht hat, verbindet Kandinsky bis 1914 eine Freundschaft und Kunstharmonie: Schönberg'sche Malereien finden Eingang in die bald legendären Ausstellungen des ,,Blauen Reiters". Das tonalitätssprengende Streichquartett ist offenbar nicht nur Kristallisationspunkt der harmonischen Entgrenzung.

Skandalkonzert 1913

Am 31. März 1913 spielte im Musikverein das Orchester des Wiener Konzertvereins unter Schönbergs Leitung Werke von Webern (Sechs Stücke für Orchester), Zemlinsky (Orchesterlieder nach Gedichten von Maeterlinck), Schönberg (Kammersinfonie Nr. 1) und Berg (Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg). Es kam zu Tumulten. Vor der geplanten Aufführung eines der Kindertotenlieder Mahlers musste das Konzert abgebrochen werden.